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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Die Maske fällt


Hanna

Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war noch schwer und dicht, als würde sie das Gewicht der vergangenen Stunden mit sich tragen. Hanna stand vor dem verfallenen Gebäude am Rand der Stadt, einem trostlosen Relikt aus einer anderen Zeit. Seine bröckelnde Fassade war von Graffiti und wild wucherndem Efeu überzogen, die Fenster schienen hohl und leer, wie schwarze Augenhöhlen eines längst vergessenen Riesen. Zwischen den Rissen und dem Verfall erkannte sie Spuren, die mehr bedeuteten, als sie auf den ersten Blick preisgaben – ein verblasstes Symbol des Karnevals, versteckt, aber unverkennbar. Ihre Entdeckung verstärkte den Eindruck, dass dieser Ort mehr war als bloß ein Zufluchtsort Elenas. Er war eine Bühne, sorgfältig gewählt, um das Spiel fortzusetzen.

Ein kalter Wind strich durch die verlassenen Straßen, trug den Geruch von feuchtem Beton und verrottendem Holz mit sich. Hanna zog den Mantel enger um sich und schloss die Finger fester um den Griff der kleinen Waffe in ihrer Jackentasche. In ihrer anderen Hand hielt sie das Foto von Lara, das Viktor ihr übergeben hatte. Ihr Blick fiel erneut auf das Symbol im Hintergrund des Bildes – ein verschlungenes Muster aus Linien und Kreisen, das ihr nur zu vertraut war. Es war ein Hinweis, der sie hierhergeführt hatte, doch sie spürte in jedem Muskel ihres Körpers, dass dies eine Falle war.

Die Dunkelheit im Inneren des Gebäudes war dicht und fast greifbar, nur durchbrochen von einem schwachen, flackernden Licht, das aus einem der oberen Stockwerke sickerte. Es war, als hätte das Gebäude selbst einen Atem, ein leises, unheimliches Pulsieren, das Hanna in der Stille der mondlosen Nacht spüren konnte. Sie trat vorsichtig ein, ihre Schritte leise, aber entschlossen. Der Boden knirschte unter ihren Stiefeln, Staub wirbelte bei jedem Schritt auf, und die Schatten schienen sich um sie zu bewegen. Eine metallene Treppe führte nach oben, und aus der Richtung des Lichts erklang das leise Flüstern von Stimmen.

Hanna hielt inne und ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Ihr Herzschlag pochte in ihrem Kopf, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass Elena sie hierhergelockt hatte. Vielleicht war das Symbol des Karnevals absichtlich auf dem Foto platziert worden. Vielleicht war alles, was sie hierhergeführt hatte, ein weiterer Zug in einem Spiel, das Hanna zu durchschauen versuchte. Sie holte tief Luft, die Finger um die Waffe fester gekrümmt, und begann, die knarrenden Stufen hinaufzusteigen.

Mit jedem Schritt, den sie stieg, wurde das Flüstern deutlicher, bis es plötzlich verstummte. Oben angekommen, erblickte sie eine offene Tür, hinter der das flackernde Licht einer Laterne Schatten an die Wände warf. Sie drückte sich an die Wand, hielt den Atem an und lauschte. Ein Gefühl tief sitzender Beklemmung legte sich wie ein Schatten über sie, doch sie ließ sich nicht beirren. Die Furcht war da, aber sie war es auch, die Hanna dazu antrieb, weiterzugehen.

„Treten Sie ein, Hanna.“ Eine Stimme durchbrach die Stille, ruhig und melodisch, mit einem Hauch von Überlegenheit, der ihr Nackenhaare aufstellte. Sie kannte diese Stimme, und das Wissen darüber brachte gleichsam Wut und Abscheu in ihr hoch.

Mit einem Ruck schob sie die Tür auf und betrat den Raum. Es war ein kleiner, karg eingerichteter Raum, dessen Zentrum eine einzelne Laterne erleuchtete, die von der Decke hing. Ihr Licht warf lange, verzerrte Schatten an die Wände. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes lag eine silberne Maske, sorgfältig platziert, ein Symbol, das Macht und Kontrolle gleichermaßen verkörperte. Hinter dem Tisch lehnte Elena elegant an einer alten Kommode, ihr dunkelblondes Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern. Sie trug einen grauen Mantel aus Samt, maßgeschneidert und perfekt, selbst in diesem verfallenen Ambiente. Ihre Haltung war ruhig, kontrolliert, ihre Augen suchten den Raum ab, als würde sie jedes Detail analysieren.

„Ich hatte gehofft, dass Sie kommen würden“, sagte Elena, ein kühles Lächeln auf den Lippen. Sie richtete sich auf, ihre Bewegungen geschmeidig wie die einer Raubkatze. „Es ist immer wieder beeindruckend, wie weit Sie bereit sind zu gehen, um die Wahrheit zu finden.“

Hanna verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Augen verengt. „Warum bin ich hier, Elena? Was wollen Sie?“ Ihre Stimme war ruhig, aber die Anspannung darin war unüberhörbar.

Elena trat einen Schritt näher und legte ihre Hände auf die Rückenlehne eines Stuhls. „Sie haben Fragen, ich habe Antworten. Und vielleicht haben wir etwas gemeinsam, Hanna. Vielleicht teilen wir mehr, als Sie annehmen.“ Sie hielt inne, ließ ihre Worte wirken, die wie sanfte, aber gezielte Hiebe auf Hannas Kontrolle trafen. „Ich habe Sie hierhergebracht, um Ihnen ein Angebot zu machen.“

Hanna lachte trocken, ein bitterer Laut, der in der stillen Luft widerhallte. „Ein Angebot? Ich habe genug von Ihren Spielchen. Sagen Sie mir, was Sie wirklich wollen, oder ich verschwende hier keine Sekunde länger.“

„Geduld, meine Liebe“, erwiderte Elena leise, ihre Stimme wie ein gefährliches Flüstern. Sie griff nach der silbernen Maske auf dem Tisch und hob sie langsam. Ihr Blick glitt über das filigrane Design, bevor sie die Maske in Hannas Richtung hielt. „Diese Welt… der Karneval… er ist längst verfallen. Doch ich denke, wir könnten ihn zu etwas Besserem machen. Etwas, das über Macht hinausgeht. Etwas… Neues.“

Hannas Magen zog sich zusammen. „Und was hat Lara damit zu tun?“ Ihre Stimme war schärfer dieses Mal, die Wut in ihr schwer zu kontrollieren.

Elena ließ die Maske langsam auf den Tisch sinken. „Lara ist ein zentraler Teil dieses Ganzen. Ihre Rolle ist wichtiger, als Sie sich vorstellen können. Aber die Wahrheit ist, dass allein ich Ihnen den Weg zu ihr zeigen kann.“

Hanna spürte, wie eine kalte, schneidende Wut in ihr aufstieg. „Sie wollen mich manipulieren. Das ist alles, was Sie können, nicht wahr? Aber ich werde nicht Ihre Spielfigur sein, Elena.“

Elena trat noch einen Schritt näher, ihre Stimme nun leiser, fast beschwörend. „Hanna, denken Sie an das, was auf dem Spiel steht. Ihre Suche nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit – ich kann Ihnen helfen, diese Ziele zu erreichen. Aber nur, wenn wir zusammenarbeiten.“

Hannas Finger schlossen sich fester um die Waffe in ihrer Tasche. „Das Einzige, was wir gemeinsam haben, ist, dass wir beide wissen, wie man kämpft. Aber ich kämpfe für etwas Echtes, Elena. Nicht für Macht und Kontrolle.“

Eine unheilvolle Stille füllte den Raum, bevor Elena schließlich zurücktrat. Ihre Bewegungen waren ruhig, doch ihre Augen verrieten eine Spur von Enttäuschung – oder vielleicht Respekt. Sie legte die silberne Maske behutsam auf den Tisch und zog einen kleinen Schlüssel aus ihrer Tasche, den sie neben die Maske legte. „Sollten Sie Ihre Meinung ändern, Hanna, wissen Sie, wo Sie mich finden.“

Hanna drehte sich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ihre Schritte hallten durch den Raum, fest und entschlossen. Als sie die Treppe hinabstieg, spürte sie den Drang, zurückzublicken, doch sie widerstand diesem Impuls. Ihre Entscheidung war getroffen. Die Dunkelheit verschluckte sie, und mit jedem Schritt wurde ihre Entschlossenheit klarer. Sie würde ihren eigenen Weg gehen, koste es, was es wolle.

Das Licht der Laterne verblasste hinter ihr, während die Nacht sie mit offenen Armen empfing. In ihren Gedanken tobte ein Sturm aus Wut, Schmerz und der unerschütterlichen Gewissheit, dass das Spiel noch lange nicht vorbei war.