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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Neubeginn im Lagerhaus


Hanna

Das Licht der frühen Abenddämmerung fiel schräg durch die hohen Fenster des Lagerhauses und ließ Staubpartikel wie schwebende Glut in der Luft tanzen. Der Hauch von frischer Farbe mischte sich mit dem harzigen Geruch von Holz, das sie für die improvisierten Möbel genutzt hatten. Die blanken Betonwände reflektierten die warmen, goldenen Strahlen der untergehenden Sonne und verliehen dem Raum ein trügerisches Versprechen von Hoffnung – ein leises Flüstern inmitten der Dunkelheit, die sie jagten.

Hanna stand vor der Pinnwand, die sie an einer der großen, kahlen Wände angebracht hatten. Fotos, Karten und Notizen reihten sich darauf aneinander, verbunden durch rote Garnlinien, die wie ein Netz von Wahrheiten und Lügen wirkten. Ihr Blick blieb an einem Bild eines Mannes mit einer goldenen Maske hängen, Isabellas Stellvertreter. Die Maske wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Welt – eine, die sie zerstören wollte, aber die sich fest in ihrem Geist eingenistet hatte. Ihre Finger berührten das Foto, und ein Schauer kroch ihren Rücken hinauf. Die Erinnerungen an die Maskenbälle, die Intrigen und die erdrückende Macht des Karnevals waren noch zu lebendig, die Narben zu frisch.

„Hanna?“ Raphaels Stimme klang ruhig hinter ihr, doch in seinen Worten schwang die vertraute Besorgnis mit. Er trat näher, sein Mantel raschelte sanft, und das Licht der Lampe in seiner Hand warf lange Schatten auf die Wand. „Rahul hat sich gemeldet. Sie wird in einer Stunde hier sein.“

Hanna löste sich aus ihrer Starre und drehte sich zu ihm. Ihre grünen Augen suchten seinen Blick, während sie ihre Gedanken ordnete. „Gut. Wir müssen sofort mit der Planung beginnen. Ich… ich kann es nicht genau erklären, Raphael, aber ich habe das Gefühl, dass wir beobachtet werden.“

Raphael nickte, seine Augen unterstrichen eine unausgesprochene Zustimmung. „Es ist keine Paranoia“, sagte er leise und schob seine Brille zurecht. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, wäre alles andere eine Dummheit. Der Karneval mag geschwächt sein, aber glaub mir, seine Schatten sind noch immer lang.“

„Zu lang“, murmelte Hanna, fast mehr zu sich selbst als zu ihm. Ihr Blick glitt erneut zur Pinnwand, suchte verzweifelt nach einem Muster, das sich ihr bislang entzogen hatte. „Marc kommt ebenfalls bald. Ich hoffe, er hat etwas Neues über die Bewegungen des Schattens herausgefunden.“

Raphael schwieg für einen Moment, musterte sie jedoch mit einer Miene, die sie nur zu gut kannte. Ein Hauch von Skepsis lag darin, aber auch Sorge. „Marc ist nützlich. Aber er ist auch eine Variable, die wir nicht kontrollieren können. Irgendwann, Hanna... irgendwann musst du entscheiden, ob du ihm wirklich vertrauen kannst.“

Sie hielt seinem Blick stand, ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen wandte sie sich wieder der Pinnwand zu, die roten Linien ein Chaos aus Bedrohungen und Möglichkeiten. „Ich weiß, Raphael. Aber ich glaube, dass er uns noch mehr erzählen kann. Die Frage ist nur, wie wir ihn dazu bringen.“

Raphael öffnete den Mund, doch das Quietschen der alten Metalltür unterbrach ihn. Beide drehten sich um, die Anspannung in der Luft war greifbar. Rahul trat ein, ihre kurzen dunklen Locken schienen im Licht der untergehenden Sonne zu glühen. Sie trug, wie immer, ihre schwarze Tasche, die prall gefüllt war mit technischen Geräten. Ihre Bewegungen waren präzise, beinahe lautlos, ihre wachsamen Augen scannten den Raum.

„Hoffentlich habt ihr Kaffee“, sagte sie trocken, während sie ihre Tasche auf den großen Holztisch stellte. „Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, einen Algorithmus zu knacken, der sich weigerte, mir irgendwelche Antworten zu geben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Blut nur noch aus Koffein besteht.“

„Tee“, erwiderte Raphael mit einem leichten Lächeln, seine Stimme ungewohnt sanft. „Das muss reichen.“

Rahul verdrehte die Augen, während sie einen Laptop aus der Tasche zog. „Natürlich habt ihr Tee. Was auch sonst.“

Hanna ließ sich nicht ablenken. „Hast du Fortschritte gemacht? Gibt es etwas Neues, das auf die Aktivitäten des Schattens hindeutet?“

Rahul zog die Augenbrauen hoch, die Müdigkeit in ihrem Blick ließ sie für einen Moment verletzlicher wirken, als sie sonst den Anschein gab. „Subtil, aber ja. Ich habe verschlüsselte Kommunikationskanäle aufgespürt, die auf Bewegungen in den alten Fraktionen des Karnevals hinweisen. Jemand versucht, sie zu reorganisieren. Es ist kein Zufall.“

Hannas Brust zog sich zusammen, ein vertrauter Druck, der sie zu lähmen drohte, bevor sie sich zwang, klar zu denken. „Das bedeutet, dass der Schatten aktiver wird. Dass wir kaum Zeit haben, um zu handeln.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür erneut. Marc trat ein, seine Bewegungen waren zögerlich, so als hätte er Angst, zu stören. Er hielt sich für einen Moment an der Schwelle, seine Schultern leicht gekrümmt, seine grauen Augen flackernd zwischen Entschlossenheit und Unsicherheit. Seine Kleidung – abgetragene Jeans und ein schlichter Pullover – wirkte wie eine Rüstung gegen die Blicke der anderen.

„Ich habe Neuigkeiten“, begann er, seine Stimme stockte leicht. „Ich... ich habe Kontakte genutzt, die noch... zuverlässig sind. Es gibt Gerüchte über ein Treffen. Ein Treffpunkt für die verbliebenen Zellen des Karnevals.“

Hanna beobachtete ihn aufmerksam, die Spannung in der Luft schien sich zu verdichten. „Wo?“

Marc zögerte, und sie bemerkte den leichten Schweißfilm auf seiner Stirn. „Ich bin mir nicht sicher. Aber es gibt Hinweise, die auf das Medaillon-Labyrinth hindeuten. Es ist riskant, ich weiß, aber... es könnte wichtig sein.“

Rahul schnaubte leise, ihre Arme verschränkt, ihre Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. „Das Medaillon-Labyrinth? Ernsthaft? Ein Ort, an dem Leute reingehen und nie wieder rauskommen? Klingt nach einer fantastischen Idee.“

Raphael räusperte sich und warf Marc einen prüfenden Blick zu. „Das Risiko ist real. Aber wenn es wahr ist, könnten wir dort erfahren, wie die Fraktionen wieder zusammengeführt werden.“

Hanna trat einen Schritt näher an Marc heran, ihre grünen Augen bohrten sich in seine. „Wenn du uns dorthin führst, muss das heißen, dass du sicher bist. Wir können es uns nicht leisten, in eine Falle zu laufen.“

Marc nickte langsam, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich weiß. Ich will... ich will es wiedergutmachen. Was ich getan habe. Ich schulde euch das.“

Ein schwerer Moment der Stille folgte, bevor Hanna schließlich nickte. „Gut. Aber Marc – es dürfen keine Fehler passieren.“

Der Abend verging in hektischen Vorbereitungen. Rahul tippte unermüdlich auf ihrem Laptop, während Raphael logistische Details überprüfte. Marc hielt sich still im Hintergrund, seine Bewegungen waren unruhig, und immer wieder warf er Blicke über die Schulter, als erwartete er, dass etwas aus den Schatten auftauchte.

Später, als die Nacht das Lagerhaus umschloss, stand Hanna allein auf dem Dach. Der Wind zerrte an ihrem Haar, das sie nun länger und ungebändigt trug, als Zeichen ihrer inneren Zerrissenheit. Die Stadt erstreckte sich vor ihr, eine pulsierende Ansammlung aus Licht und Schatten. Doch ihre Gedanken wurden von etwas anderem angezogen – einem flüchtigen Schatten, der über das Dach eines benachbarten Gebäudes huschte. Fast zu schnell, um ihn wirklich zu sehen, doch gerade deutlich genug, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, während sie ihre Jacke enger zog. Der Kampf war noch lange nicht vorbei – das wusste sie jetzt mit bedrückender Gewissheit. In der Dunkelheit der Nacht sprach sie ein stilles Versprechen aus, die Kälte in ihrer Brust wich einer unerschütterlichen Entschlossenheit.

„Die Wahrheit wird nicht im Schatten sterben. Nicht dieses Mal.“