Kapitel 2 — Eine rätselhafte Botschaft
Hanna
Das frühe Morgenlicht drang zögerlich durch die staubigen Fenster des Lagerhauses und zeichnete ein zartes Schachbrett aus Schatten und Licht auf den Boden. Die Luft war kühl und träge, durchdrungen von einem leichten Summen der alten Leitungen, das wie ein ferner, nervöser Herzschlag klang. Hanna saß an einem der groben Holztische, die Hände fest um eine dampfende Tasse Tee geschlossen, als wolle sie deren Wärme in sich aufnehmen. Vor ihr lagen Notizen, Karten und lose Blätter, doch ihre grünen Augen, von dunklen Schatten umrahmt, blickten hindurch, weit weg. Die Ereignisse der letzten Tage wirbelten immer noch wie ein Sturm in ihrem Kopf.
Das Knarren von Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Raphael trat in den Raum – sein Mantel zerknittert, die Brille leicht schief auf der Nase. Er hielt einen Stapel Papiere unter dem Arm, den er vorsichtig auf den Tisch legte. Sein Blick ruhte auf Hanna. „Du hast kaum geschlafen“, sagte er leise, aber mit der sanften Bestimmtheit eines Mannes, der wusste, wann er nicht weiter nachfragen sollte.
Hanna hob den Blick, ihre Augen funkelten trotz der Müdigkeit darin. „Eine Pause können wir uns nicht leisten, Raphael. Nicht jetzt.“ Sie hob die Tasse an ihre Lippen, nahm einen winzigen Schluck und seufzte leise. Ihre Finger strichen gedankenverloren über den Rand der Tasse, während sie zur Pinnwand sah, die wie ein chaotisches Netz aus roten Fäden und Bildern wirkte. Ihr Blick blieb an einem Foto hängen: Ein Mann mit einer goldenen Maske, das Symbol für alles, was sie so sehr zu zerstören versuchte. „Rahul hat recht. Jemand reorganisiert den Karneval, und wir wissen nicht, wie tief dieser Schatten bereits reicht.“
Raphael nickte langsam. Sein Blick folgte Hannas, verweilte auf der Pinnwand. „Deshalb brauchen wir Marc. Er ist ein Risiko, ja, aber seine Informationen könnten entscheidend sein.“
Ein leises Klopfen an der Tür ließ beide zusammenzucken. Ein plötzlicher Windstoß schien durch den Raum zu fahren, ein Vorbote von etwas. Raphael stellte sich aufrecht hin, seine Bewegungen ruhig, aber angespannt. Mit einer Hand am Türgriff und der anderen bereit, nach der Waffe an seinem Hosenbund zu greifen, öffnete er die Tür einen Spalt breit. Das Licht der Morgensonne fiel schräg auf den Boden der Schwelle. Dort lag ein cremefarbener Umschlag. Elegant. Schlicht. Ohne Absender.
Raphael sah sich um, sein Blick glitt über die leere Straße, die in der frühen Morgenröte still dalag. Keine Bewegung. Kein Schatten. Schließlich hob er den Umschlag auf, schloss die Tür hinter sich und reichte ihn Hanna. „Kein Absender“, sagte er, seine Stimme ein leises Grollen. „Das könnte alles sein.“
Hanna nahm den Umschlag mit zitternden Fingern. Es war nicht die Kälte, die sie zittern ließ, sondern die Anspannung, die wie ein unsichtbares Gewicht auf ihren Schultern lag. Langsam öffnete sie den Umschlag, der sich seltsam kühl und geschmeidig anfühlte. Das Papier, das sie herauszog, war dick, von außergewöhnlicher Qualität. Die Tinte darauf glitzerte leicht, als hätte der Schreiber sie gerade erst aufgetragen. Eine detaillierte Skizze sprang ihr entgegen: eine goldene Maske, kunstvoll verziert mit filigranen Ornamenten, die einen seltsamen, beinahe hypnotischen Effekt hatten. Darunter stand in geschwungener kalligrafischer Schrift: „Die Masken sind noch nicht gefallen.“
Hannas Herz setzte einen Schlag aus. Ihre Finger krallten sich in das Papier, während sie die Worte immer wieder las. Ihre Gedanken rasten. Die Maske. Die Worte. Es war eine Botschaft, so klar wie bedrohlich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, tief und kalt, wie eine unsichtbare Berührung.
„Lass mich sehen.“ Raphael nahm ihr den Zettel vorsichtig aus der Hand. Er studierte die Skizze, sein Blick wirkte härter, kontrollierter als ihrer. „Sie wollen, dass wir wissen, dass sie noch da sind.“ Er sprach die Worte ruhig aus, aber seine Stimme trug ein Gewicht, das keine Zweifel zuließ.
Hanna schüttelte den Kopf. „Es ist mehr als das. Sie wissen, wo wir sind. Das hier... das ist keine bloße Erinnerung. Es ist eine Warnung. Eine Drohung.“ Sie deutete auf die Maske, die im Raum wie ein Schatten zu hängen schien.
In diesem Moment betrat Rahul den Raum. Ihr Laptop klemmte unter ihrem Arm, und ihre andere Hand fuhr hektisch durch ihr lockiges Haar. „Was zum Teufel ist los? Ihr seht aus, als hättet ihr...“ Sie hielt inne, als ihr Blick auf die Maske fiel. Sie nahm den Zettel entgegen, las die Worte und stieß einen leisen Pfiff aus. „Okay, das ist... subtil. Aber auch nicht wirklich subtil. Wer auch immer das geschickt hat, will uns wachhalten. Und ich muss sagen, es funktioniert.“
Raphael trat einen Schritt näher. „Kannst du herausfinden, woher es kommt?“
Rahul hob eine Augenbraue. „Ich kann es versuchen.“ Sie zog ein kleines Gerät aus ihrer Tasche, schloss es an ihren Laptop an und begann, den Umschlag und das Papier zu scannen. „Wenn die Leute vom Karneval dahinterstecken, wird das allerdings schwierig. Die sind nicht gerade für ihre Nachlässigkeit bekannt.“
Das Summen des Scanners und das Klappern von Rahuls Fingern auf der Tastatur erfüllten den Raum. Die Luft schien schwerer zu werden, dichter. Hanna starrte auf den Bildschirm, während die Maske digital erfasst wurde, und fühlte, wie sie zurückgezogen wurde – zu den Bällen, den Intrigen, den Gesichtern hinter den Masken, die niemals wirklich Gesichter waren. Die Erinnerung war so lebendig, dass sie fast den Duft von Parfum und Kerzenwachs riechen konnte.
„Das gibt’s doch nicht.“ Rahuls Stimme holte sie zurück. Sie lehnte sich zurück, die Hände in die Seiten gestemmt. „Keine Fingerabdrücke. Keine Rückstände. Kein gar nichts. Das hier könnte direkt aus dem Nichts gekommen sein.“
Hanna fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, als wollte sie die Anspannung wegwischen. „Das heißt, sie sind uns näher, als wir dachten. Sie wussten, dass wir hier sind.“
„Oder sie wollten, dass wir genau das denken“, murmelte Raphael dunkel.
Bevor jemand antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut, und Marc trat ein. Seine Haltung war nervös, seine Augen flackerten zwischen den Anwesenden hin und her, bevor sie an der Maske hängen blieben. „Was... was ist das?“
„Eine Botschaft“, antwortete Hanna kühl. Ihre Stimme war messerscharf, ihre Augen auf ihn gerichtet.
Marc schluckte. „Vielleicht... vielleicht ist es nur Einschüchterung. Sie wollen, dass wir uns unsicher fühlen.“
„Vielleicht“, erwiderte Hanna, ihre Stimme ruhiger, aber nicht weniger eindringlich. „Oder sie wollen, dass wir erstarren. Dass wir Fehler machen.“
Marcs Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Augen wanderten zu Boden, dann zurück zur Maske. Er murmelte etwas, das niemand verstand, und zog sich schließlich in eine Ecke zurück. Raphael beobachtete ihn genau, sagte aber nichts. Es war Hanna, die den Blick nicht von ihm abwandte, als wollte sie etwas in ihm erkennen, das sie noch nicht ganz greifen konnte.
Der Tag verging in unruhiger Stille. Rahul arbeitete weiter an ihrem Laptop, Raphael durchforstete die Pinnwand, und Marc saß wie ein Schatten in der Ecke. Hannas Gedanken aber kehrten immer wieder zur Maske zurück. Was bedeuteten die Worte wirklich? Wer hatte sie geschickt? Und vor allem: Was wollten sie damit erreichen?
Als die Nacht hereinbrach, stand Hanna auf dem Dach des Lagerhauses, den kalten Wind in ihrem Haar. Sie blickte auf die Stadt, deren Lichter wie kleine Inseln in einem endlosen Meer aus Dunkelheit wirkten. Ihre Gedanken waren schwer, ihre Brust schmerzte vor Ungewissheit. Die Maske, der Umschlag, der Schatten – alles lag schwer auf ihr.
Sie zog ihre Jacke enger um sich, der Wind biss in ihre Haut. Ihre Augen durchsuchten die Dunkelheit, als könnte sie darin Antworten finden. Leise, fast zu sich selbst, murmelte sie: „Was wollt ihr wirklich?“
Doch die Nacht blieb still.