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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Verlorene Erinnerungen


Lena Berger

Lena spürte die Anspannung in ihrer Brust, als sie im Zug nach München saß. Der rhythmische Klang der Schienen unter dem Waggon war ein monotones Hintergrundrauschen, das ihr sonst half, ihre Gedanken zu ordnen. Doch heute schien jeder Stoß der Schienen einen Schlag auf ihren Nervenknoten auszulösen. Ihre Finger trommelten unruhig auf dem Touchpad ihres Laptops, der geöffnet auf dem kleinen Klapptisch vor ihr lag. Das Display zeigte eine entschlüsselte Datei: Koordinaten, verschleierte Namen, fragmentierte Hinweise. Ihre Augen wanderten immer wieder über die Zahlenreihen, während ihr Verstand versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen.

Sie schluckte schwer und drückte die Taste zum Schließen der Datei. Der Code, der sich mehrfach in den Unterlagen ihres verstorbenen Vaters wiederholt hatte, spukte in ihren Gedanken. Ein kalter Kloß saß in ihrer Brust, als die Erinnerung an eine Nacht aus ihrer Jugend aufblitzte: Sie war vierzehn gewesen, hatte ihren Vater belauscht, wie er in seinem Arbeitszimmer hektisch Dokumente durchwühlte. Der Code war auf einem Stück Papier notiert gewesen, das er verbrannte, bevor sie ihn genauer betrachten konnte. Damals hatte sie nichts verstanden, doch die Schreie ihres Vaters hallten noch immer in ihrem Kopf: „Das darf nie ans Licht kommen!“

Die Landschaft draußen veränderte sich: Grau und trüb wurden die Vororte Münchens sichtbar, ein Puzzle aus Stahl und Beton, das sich in die kalte Winterlandschaft fügte. Lena zog ihren Mantel fester um sich, als der Zug am Bahnsteig hielt. Sie stieg in die kühle, dieselgeschwängerte Luft und schritt zügig aus, die Adresse im Kopf, die sie aus den Koordinaten abgeleitet hatte.

Das Labor war unscheinbarer, als sie erwartet hatte: ein grauer Betonblock, umgeben von Lagerhallen und verlassenen Gebäuden. Nur die verdunkelten Fenster und die gespenstische Stille verrieten, dass hier etwas nicht stimmte. Lena blieb stehen, ließ ihren Blick über den verlassenen Parkplatz und die Stromleitungen schweifen, die leise summten. Kein Mensch war zu sehen. Sie griff nach ihrem Handy, machte ein Foto des Gebäudes und holte dann unauffällig ihr kleines Werkzeugset aus der Tasche. Nicht unbedingt legal, dachte sie, aber notwendig.

Ein leises Klicken, und die Tür gab nach. Lena warf einen letzten Blick über die Schulter, bevor sie hineinschlüpfte. Innen war es kalt, der Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft, und das fluoreszierende Licht flackerte leicht, als sei das Gebäude nur noch ein Schatten seiner früheren Nutzung. Ihre Schritte hallten in den leeren Gängen, während sie vorsichtig voranging.

Büroräume reihten sich aneinander, karg eingerichtet, ein dünner Staubfilm bedeckte die Tische. Dennoch gab es Hinweise auf eine gewisse Aktivität: ein halb gefüllter Kaffeebecher, ein nicht ganz zurückgeschobener Stuhl. Lena schluckte ihre Nervosität herunter und suchte weiter. Schließlich entdeckte sie einen kleinen Raum, der wie ein Archiv wirkte – schmale Regale voller Aktenordner und ein Laptop auf einem Tisch, dessen Bildschirm ausgeschaltet war. Sie griff nach einem Ordner und öffnete ihn.

Die ersten Seiten ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Medizinische Berichte über experimentelle Behandlungen, protokollierte Nebenwirkungen, Patienten, die ohne Erklärung aus den Dokumentationen verschwunden waren. Sie blätterte weiter, die Finger zitterten leicht, bis sie auf etwas stieß, das ihren Herzschlag aussetzte. Da war er: der Name ihres Vaters. Schwarz auf weiß, eingetragen als „Berater“ einer der Studien.

Die Welt schien für einen Moment stillzustehen. Lena setzte sich abrupt auf den nächstgelegenen Stuhl, ihre Knie fühlten sich schwach an. Ihr Vater war kein Wissenschaftler gewesen. Was hatte er hier zu suchen? Sie starrte auf das Papier, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Erinnerungen an ihre Kindheit flackerten auf, Szenen, in denen er sie mit strenger, aber liebevoller Stimme ermahnte, immer die Wahrheit zu suchen. Und doch hatte er offenbar selbst etwas zu verbergen gehabt.

Ein innerer Monolog schoss durch ihren Kopf: „Habe ich ihn jemals wirklich gekannt? Was hat er getan? Hat er davon gewusst? War er Teil von all dem oder ein Opfer?“ Sie zwang sich aufzustehen. Ihre Hände zitterten, als sie die Seiten mit ihrem Handy fotografierte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch – ein Knacken, wie von Schritten auf einem Flur.

Lena erstarrte. Sie hatte niemanden kommen hören. Die Schritte waren langsam, bedächtig – ein Suchender, kein Zufälliger. Sie schob ihr Werkzeugset in die Tasche und sah sich hastig um. Der Raum bot wenig Versteckmöglichkeiten. Schnell zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne, um eine falsche Spur zu legen, dann drückte sie sich in den Schatten eines Schranks.

Die Tür öffnete sich, und ein großer, breitschultriger Mann trat ein. Er trug keine Uniform, doch seine Bewegungen waren gezielt. Lena beobachtete, wie er einen Ordner aus einem Regal zog und darin blätterte. Danach setzte er sich an den Tisch und schaltete den Laptop ein. Sein konzentrierter Blick ließ keinen Zweifel: Er war hier, um etwas zu finden – oder jemanden.

Lena griff in ihre Tasche und zog den Störsender hervor, den Carla ihr gegeben hatte. Sie drückte den Knopf, und das Licht des Laptops flackerte, bevor es erlosch. Der Mann fluchte leise und begann, auf den Tasten zu tippen, doch das Gerät zeigte keine Reaktion. Lena nutzte den Moment, um aus ihrem Versteck zu gleiten. Lautlos schlich sie zur Tür und schlüpfte hinaus, bevor der Mann ihre Anwesenheit bemerkte.

Draußen in der kalten Nachtluft schnappte sie nach Atem. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, doch ihre Gedanken rasten noch schneller. Die Entdeckung im Labor hatte mehr Fragen aufgeworfen, als sie beantwortet hatte. Und die Präsenz des Mannes war ein unmissverständliches Signal, dass ihre Nachforschungen bemerkt worden waren.

Lena zog ihren Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Sie musste Carla anrufen. Doch wie sollte sie erklären, was sie selbst kaum begreifen konnte? Mit jedem Schritt wuchs ihre Entschlossenheit. Egal, was es sie kosten würde: Sie würde die Wahrheit finden. Der Wind blies eisig, während sie in die Dunkelheit eintauchte, bereit, den nächsten Schritt zu wagen.