reader.chapter — Der Ruf der Vergangenheit
Amara Weidenfeld
Die Stadt war in ein graues, tristes Licht getaucht, als Amara durch die überfüllten Straßen ging. Ein schneidender Wind trieb die Kälte durch die engen Gassen, und der Geruch von nassem Asphalt und Abgas hing schwer in der Luft. Die Geräusche der Stadt – das Hupen von Autos, das Knarren von Straßenbahnen, das Gemurmel der vorbeiziehenden Menschen – schienen an diesem Tag besonders drückend, wie eine Kakophonie, die ihren inneren Tumult spiegelte. Sie zog die Kapuze ihrer abgetragenen Lederjacke tiefer ins Gesicht, als wolle sie sich vor der Welt verbergen, und stapfte durch die Pfützen, ohne darauf zu achten, wohin sie ging.
Doch heute war nicht wie jeder andere Tag. Eine seltsame Schwere lag auf ihrer Brust, eine Unruhe, die in den letzten Tagen immer lauter geworden war. Es fühlte sich an, als ob etwas in der Luft lag, etwas, das sie unaufhaltsam in eine Richtung zog, die sie nicht verstand.
„Wie lange willst du noch in deiner eigenen Welt herumirren?“ Die Stimme ihrer besten Freundin Lisa riss sie aus ihren Gedanken. Amara blinzelte und sah zu ihr auf. Lisa stand mit zwei dampfenden Bechern Kaffee in den Händen vor ihrem Lieblingscafé, ihr Gesicht von einer Mischung aus Sorge und belustigtem Spott gezeichnet. Trotz der Kälte trug sie ihre typische, leuchtend rote Strickmütze, die wild zu ihrem ungestümen Temperament passte.
Amara schaffte es, ein müdes Lächeln aufzusetzen. „Es geht mir gut.“ Es war eine Lüge, und das wusste Lisa sofort. Ihre skeptisch hochgezogene Augenbraue sprach Bände, doch sie ließ es unkommentiert. Sie wusste, dass Amara von selbst reden würde, wenn sie bereit war.
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, ihre Stühle leicht feucht vom allgegenwärtigen Nieselregen. Lisa nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und starrte Amara über den Rand des Bechers hinweg an. „Also?“ begann sie schließlich, ihre Stimme leicht fordernd. „Hast du dich endlich entschieden, die Stadt zu verlassen? Oder bleibst du hier, bis du ganz im Nebel verschwindest?“
Amara umklammerte ihren Becher, ihre Finger klamm von der Kälte. Der Dampf des Kaffees stieg spiralförmig in die Luft, und sie starrte hinein, als könnte sie darin Antworten finden. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie schließlich, obwohl das nicht die ganze Wahrheit war. Seit Tagen war da dieses Gefühl – eine Mischung aus Angst und Faszination, die sie wach hielt. Und dann war da der Brief.
Er war gestern angekommen, in einem schlichten, vergilbten Umschlag, der nach altem Papier und etwas Metallischem roch. Kein Absender, nur ihr Name darauf, in einer eleganten Handschrift, die wie aus einer anderen Zeit wirkte. Sie hatte ihn später, in der Einsamkeit ihres kleinen Apartments, geöffnet. Für einen Moment war sie wie gelähmt gewesen, unfähig, die Bedeutung der Worte zu erfassen.
„An Amara Weidenfeld, Erbin des Hauses Weidenfeld“, begann der Brief. Die Worte hatten in ihr etwas ausgelöst, das sie nicht benennen konnte – eine Art Wiedererkennen, obwohl sie sicher war, diesen Namen noch nie gehört zu haben. Der Brief sprach von ihrem „rechtmäßigen Erbe“, von „alten Pflichten“ und einer „Prophezeiung“. Jedes Wort hatte sich wie eine Messerklinge in ihren Verstand gebohrt. Es konnte sich nur um einen Fehler handeln. Ihre Familie hatte keine Schlösser, keine Prophezeiungen. Doch irgendetwas daran hatte sich ... vertraut angefühlt.
„Amara?“ Lisas Stimme war jetzt sanfter, weniger neckend. „Du bist heute noch abwesender als sonst. Was ist los?“
Amara zögerte, dann holte sie den Brief aus ihrer Tasche und legte ihn schweigend auf den Tisch. Lisa griff danach und begann zu lesen. Ihre Augen wurden größer, je weiter sie kam, und am Ende blickte sie Amara mit einem Ausdruck an, der irgendwo zwischen Unglaube und Beklommenheit lag.
„Das ... das ist doch ein Scherz, oder?“ Ihre Stimme war leise, fast ehrfürchtig. „Ein Schloss? Eine Prophezeiung? Wer schickt so etwas?“
Amara schüttelte den Kopf, während sie den Becher in ihren Händen drehte. „Ich weiß es nicht. Aber etwas daran fühlt sich ...“ Sie suchte nach Worten und fand keine, die das Gefühl beschreiben konnten. „Es fühlt sich richtig an. Es ist, als ob ... als ob ich schon immer auf diesen Moment gewartet hätte, ohne es zu wissen.“
Lisa starrte sie an, ihre Besorgnis wuchs sichtbar. „Amara, das klingt nicht wie du. Du bist immer die Vernünftige von uns beiden. Du kannst doch nicht ernsthaft darüber nachdenken, da hinzugehen. Was, wenn das eine Falle ist? Oder irgendein irrer Kult?“
Amara sah sie an, und für einen Moment war da etwas Rohes in ihrem Blick, etwas, das Lisa erschrocken zurückzucken ließ. „Ich weiß, wie es klingt“, sagte sie leise. „Aber ich habe keine Wahl. Ich muss herausfinden, was das alles bedeutet.“
Später, allein in ihrem Apartment, starrte Amara lange auf den Brief, der jetzt auf dem kleinen, wackeligen Tisch lag. Der Wind rüttelte an den Fenstern, und die Geräusche der Stadt drangen gedämpft durch die Wände. Sie dachte an ihre Mutter, die vor so vielen Jahren gestorben war, und an ihren Vater, der nie über die Vergangenheit gesprochen hatte. Eine Erinnerung drängte sich auf: Sie war sechs oder sieben gewesen, und ihre Mutter hatte ihr ein altes Lied vorgesungen, das von einem Schloss in einem fernen Land handelte. Amara hatte sie gefragt, ob es ein echtes Schloss sei. Ihre Mutter hatte nur gelächelt und gesagt: „Eines Tages wirst du es wissen.“
Das Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Es war spät, und sie erwartete niemanden. Vorsichtig schlich sie zur Tür und spähte durch den Spion. Ein Mann stand dort, groß, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt. Sein Gesicht war im Schatten verborgen, aber seine Haltung war ruhig, fast unheimlich. In seiner Hand hielt er ein kleines Paket.
„Wer ist da?“ rief sie, ihre Stimme fester, als sie sich fühlte.
„Ein Bote“, kam die Antwort, tief und gleichmütig. „Es wird Zeit, dass Sie Ihren Platz einnehmen.“
Amara zögerte. „Lassen Sie es vor der Tür“, sagte sie schließlich. Der Mann gehorchte, legte das Paket ab und verschwand so lautlos, dass sie sich fragte, ob sie ihn sich eingebildet hatte. Doch das Paket war da.
Drinnen, mit verriegelter Tür und klopfendem Herzen, öffnete sie es. Darin lag ein einzelner Schlüssel, alt und schwer, sowie eine Karte. Die Karte zeigte einen abgelegenen Teil der Thüringer Wälder und trug den Schriftzug „Schloss Weidenfeld“. Kein Absender, keine weiteren Informationen. Nur die kalte, metallische Realität, dass dies kein Scherz war.
Sie hielt den Schlüssel in der Hand. Er fühlte sich überraschend warm an, und ein unverständlicher Strom schien durch ihre Finger zu fließen. Es war, als ob der Schlüssel sie rief, sie zu einem Ort lockte, den sie noch nie gesehen hatte, der aber wie ein Teil von ihr war. Amara wusste mit einer Klarheit, die sie erschreckte, dass ihre Entscheidung gefallen war.
Am nächsten Morgen, als die Stadt langsam erwachte, kaufte sie ein Zugticket. Lisa verabschiedete sich wortlos, nur eine feste Umarmung und ein leiser, zittriger Satz: „Versprich mir, dass du zurückkommst.“
Amara nickte, obwohl sie wusste, dass sie dieses Versprechen vielleicht nicht halten konnte. Als der Zug die Stadt hinter sich ließ, spürte sie eine Mischung aus Angst und Erleichterung. Die Bäume wurden dichter, die Straßen seltener. Der Nebel kroch über die Felder, und das Heulen eines einzelnen Wolfes drang aus der Ferne. Amara schloss die Augen und atmete tief ein. Sie wusste, dass diese Reise sie verändern würde – unwiderruflich.