reader.chapter — Die Reise ins Unbekannte
Amara Weidenfeld
Der Zug ratterte durch die nebligen Ebenen, sein monotoner Rhythmus hallte wie ein gedämpfter Herzschlag durch den Wagen. Amara saß allein auf einer der abgenutzten Polstersitze, die Hände um ihren Mantel geschlungen, während ihre Gedanken unablässig kreisten. Der metallische Schlüssel und die vergilbte Karte lagen tief in ihrer Tasche, doch sie konnte das Gewicht der Gegenstände förmlich spüren, als würden sie eine unsichtbare Bindung zu dem unbekannten Ziel vor ihr weben.
Der Nebel draußen war undurchdringlich, eine wogende Wand aus Grau und Weiß, die die Welt umarmte und zugleich verschluckte. Manchmal glaubte Amara, Schatten im Dunst zu erkennen, dunkle Formen, die sich zwischen den kargen Bäumen bewegten. Und doch verschwanden sie, sobald sie blinzelte, wie flüchtige Geister.
„Nur die Müdigkeit“, murmelte sie, doch ihre Stimme klang hohl im leeren Wagen. Sie versuchte, ihren Fokus auf etwas anderes zu lenken, doch ihre Gedanken wanderten unweigerlich zurück zu dem Brief, der ihre Reise gestartet hatte. Warum hatte sie überhaupt darauf reagiert? Warum fühlte es sich so an, als hätte sie keine Wahl gehabt? Eine Stimme in ihr flüsterte von Schicksal, von Dingen, die sie nicht versteht, doch sie ließ sich nicht täuschen – es war die Ungewissheit, die sie quälte.
Plötzlich hielt der Zug mit einem Ruck, und Amara wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ein älterer Mann, offensichtlich der Schaffner, trat in den Wagen. Sein wettergegerbtes Gesicht war von Linien durchzogen, die von unzähligen Jahren eines harten Lebens zeugten. „Endstation“, erklärte er knapp, ohne sie anzusehen, und seine Stimme klang angespannt, als ob er selbst diesen Ort meiden wollte.
Amara nickte, griff nach ihrer Tasche und stieg aus. Ein eisiger Wind empfing sie mit einer Schärfe, die selbst durch ihren Mantel drang, und sie zog ihn enger um sich. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, sein Geräusch verblasste in der Ferne, bis nur noch Stille herrschte. Die Haltestelle war nicht mehr als ein verlassener Bahnsteig aus rissigem Beton, umgeben von schwarzen, dichten Bäumen, die wie stille Wächter den Rand der Welt markierten.
Ein altes Holzschild stand schief am Rand. Die verblichene Schrift darauf war kaum noch lesbar, doch sie glaubte, den Namen des Ortes zu erkennen: „Weidenholz.“ Ihr Blick fiel auf die Karte, die ihr den Weg wies. Sie war nah, aber noch nicht am Ziel.
Sie setzte sich in Bewegung, ihre Schritte hallten seltsam laut auf dem unebenen Weg wider. Das kalte Flüstern des Windes schien durch die knorrigen Äste über ihr zu gleiten, und mit jedem Schritt wurde die Landschaft um sie herum enger. Die hohen Tannen schlossen sich wie ein Tunnel über ihr zusammen, und die Welt schien in ein unnatürliches Schweigen zu sinken, das nur von gelegentlichem Rascheln unterbrochen wurde.
Das Dorf tauchte wie aus dem Nichts im Nebel auf. Die wenigen Häuser waren alt und schief, ihre Fenster dunkel wie leere Augen. Sie spürte die Blicke der Bewohner, die sie aus ihren Verstecken hinter Gardinen und Ecken misstrauisch beobachteten. Der Marktplatz war fast menschenleer, bis auf einen alten Mann, der auf einer umgestürzten Kiste saß und Pfeife rauchte.
Als sie sich ihm näherte, hob er den Blick langsam zu ihr. Seine Augen waren von einem trüben Grau, doch sein Blick wirkte scharf und wachsam. „Ihr seid nicht von hier“, stellte er fest, ohne sie direkt anzusehen. Seine Stimme war rau wie das Knirschen von Holz im Frost, und seine Worte schienen schwer in der Luft zu hängen.
„Nein“, antwortete Amara. Sie blieb stehen, ihre Tasche fest umklammert, während ihr Herz schneller zu schlagen begann. „Ich suche das Schloss Weidenfeld.“
Der alte Mann hielt inne, seine Pfeife verharrte auf halbem Weg zu seinem Mund. Für einen Moment starrte er sie an, als könnte er durch sie hindurchsehen, bevor ein bitteres Lächeln seine Lippen verzog. „Weidenfeld“, wiederholte er langsam, als ob er das Wort kosten wollte. „Kein Ort für jemanden wie euch.“
Amara setzte zu einer Erwiderung an, aber er fuhr fort, als hätte er ihre Frage schon gehört. „Früher… kamen manchmal Leute wie ihr. Selbstbewusst. Neugierig. Aber sie kehrten nicht zurück. Manche sagen, das Schloss zieht die Seelen in die Dunkelheit.“ Er spuckte auf den Boden, ein unheilvolles Zeichen, bevor er sich wieder seiner Pfeife widmete.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie zwang sich, den Mann nicht weiter anzusehen. Sie wollte nicht zeigen, wie seine Worte sie beunruhigten. Der Weg zog sie weiter, hinaus aus dem Dorf. Die Straßen wurden schmaler, und die Bäume schienen sich immer dichter zusammenzuziehen.
Mit jedem Schritt überkam sie ein Gefühl, beobachtet zu werden. Die Schatten zwischen den Bäumen wirkten lebendig, und der Nebel legte sich dichter um sie, wie eine zweite Haut. Das Knacken eines Zweiges ließ sie innehalten. Sie drehte sich um, blickte angestrengt in die Dunkelheit, doch da war nichts. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte, ihr Atem ging schneller, als das Knurren ertönte.
Es begann leise, ein tiefes, vibrierendes Geräusch, das durch die Stille schnitt. Dann hörte sie mehr – ein zweites Knurren, dann ein drittes, vermischt mit dem Klicken von Krallen auf Stein. Panik stieg in ihr auf, doch sie zwang sich, nicht stehen zu bleiben. „Ruhig bleiben“, flüsterte sie zu sich selbst, doch ihre Stimme klang brüchig.
Die Brücke tauchte vor ihr auf – eine schmale, steinerne Konstruktion, die über einen schwarzen Fluss führte. Hier zögerte sie, denn der Fluss darunter wirkte wie ein stiller Abgrund, der nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Trotzdem setzte sie einen Fuß vor den anderen auf die glitschigen Steine.
Das Knurren hinter ihr wurde lauter. Sie war sich sicher, dass sie Augenpaare durch den Nebel blitzen sah – golden und unmenschlich. Ohne weiter nachzudenken, rannte sie los. Ihre Stiefel rutschten auf dem feuchten Stein, und der Nebel schien sich wie Hände um sie zu legen, sie zurückzuhalten.
Als sie die Brücke überquerte und die ersten Bäume hinter sich ließ, verstummten die Geräusche abrupt. Doch sie hielt nicht inne, bis die Türme des Schlosses vor ihr auftauchten. Sie erhoben sich wie gebrochene Zähne aus der Dunkelheit, alt und von der Zeit gezeichnet, und doch voller unheilvoller Kraft.
Amara blieb keuchend stehen, ihre Beine schwer und zitternd, während ihr Blick an dem Monument klebte. Das Schloss war eine bedrückende Präsenz, ein steinernes Herz inmitten der Wildnis, das wie ein lebendiger Wächter wirkte. Der Nebel schien es zu umarmen, und doch wirkte es unbezwingbar, ein Ort jenseits aller Vernunft.
Trotz der Erleichterung, ihr Ziel erreicht zu haben, spürte sie, wie eine neue Welle der Furcht über sie rollte. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Schlüssel in ihrer Tasche und setzte den ersten Schritt in Richtung ihres Schicksals.