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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterDas verlassene Schloss


Amara

Der erste Schritt über die Schwelle des Schlosses fühlte sich an, als würde Amara in eine andere Welt eintreten. Die Kühle der Luft schien durch ihre Haut zu dringen, und etwas Unsichtbares legte sich schwer auf ihre Schultern – ein Gefühl, als ob die Mauern des Schlosses sie begutachteten, bewerteten. Der Schlüssel in ihrer Tasche vibrierte schwach, als ob er auf die Energie dieses Ortes reagierte. Es war ein Puls, den sie nicht verstehen, aber tief in ihrer Seele spüren konnte.

Das spärliche Mondlicht fiel durch hohe, schmale Fenster auf den grauen, staubigen Boden des Eingangsbereichs, der von dünnen, gezackten Spuren durchzogen war – Spuren, die aussahen, als wären sie erst vor kurzem hinterlassen worden. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie eine Bewegung wahrnahm: ein Schatten, der sich in der Peripherie ihres Blicks bewegte, doch als sie sich umsah, war nichts mehr da.

Plötzlich erklang hinter ihr das leise Knirschen von Leder auf Stein. Amara fuhr herum und hielt den Atem an. Aus der Dunkelheit trat eine Frau, deren silbernes Haar wie Mondlicht glänzte. Ihre eisblauen Augen fixierten Amara mit einer Ruhe, die gleichzeitig beruhigend und beunruhigend war.

„Willkommen, Amara Weidenfeld.“ Die Stimme der Frau war ruhig, ihre Worte schwer von Bedeutung. „Ich bin Elara. Die Hüterin dieses Hauses. Ich habe dich erwartet.“

Amara spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen schlug, doch sie hielt sich mit Mühe aufrecht. „Wie wissen Sie, wer ich bin?“ Ihre Stimme war schärfer, als sie es beabsichtigt hatte, doch sie wollte Antworten.

Elara lächelte schwach, ein flüchtiges, melancholisches Zucken ihrer Lippen, das weniger Freude als Bedauern zu enthalten schien. „Es gibt wenig, das ich nicht weiß, Kind. Deine Ankunft war vorherbestimmt, so wie die Dunkelheit die Nacht kennt.“

Das Wort „vorherbestimmt“ dröhnte in Amaras Ohren, und die Luft um sie herum schien dichter zu werden. Die Wände des Schlosses schienen sich bei diesem Wort in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung zusammenzuziehen, und ein metallischer Nachgeschmack legte sich auf ihre Zunge.

Sie wollte widersprechen, wollte mehr wissen, doch Elara wandte sich bereits ab und deutete mit einer langsamen, majestätischen Geste, dass Amara ihr folgen sollte.

Die Gänge des Schlosses waren verwinkelt und schienen endlos. Die Wände trugen verblasste Wandteppiche, auf denen Szenen dargestellt waren, die Amara nicht begreifen konnte – Symbole und Gestalten, die in einer fremdartigen Sprache miteinander verwoben waren. In den Ecken der Gänge standen Statuen mit steinernen Gesichtern, deren leere Augenhöhlen den Eindruck erweckten, sie zu beobachten. Der Boden knirschte bei jedem ihrer Schritte, und der Geruch von feuchtem Stein, altem Holz und etwas Metallischem erfüllte die Luft.

„Es gibt hier Orte, die du meiden solltest“, sagte Elara plötzlich, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme war ruhig, doch die Worte schienen in den Fluren widerzuhallen. „Das Schloss hat seine Eigenheiten. Es bewahrt Geheimnisse, die nicht jedem zugänglich sind. Geheimnisse, die sich nicht leicht vergeben.“

Amara wollte etwas sagen, doch aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Ein Schatten, der sich nicht mit dem Rest des flackernden Kerzenlichtes zu bewegen schien. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und ihr Atem stockte.

„Komm“, sagte Elara, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. „Es gibt nichts zu befürchten. Noch nicht.“

Die letzten beiden Worte ließen einen eisigen Schauer über Amaras Rücken laufen, doch sie folgte Elara, auch wenn ihr Blick immer wieder in die Dunkelheit wanderte.

Schließlich führte Elara sie in einen Raum, der wie ein Salon wirkte, wenn auch einen, den die Zeit vergessen zu haben schien. Ein massiver Kamin dominierte den Raum, doch das Feuer darin war längst erloschen. Staubige Möbel standen verstreut, ihre einst prunkvollen Stoffe verblasst und zerfressen. Ein schwerer Vorhang raschelte leise im Luftzug, und das schwache Licht des Mondes schimmerte auf den verzierten Holzrahmen eines großen Spiegels an der Wand.

„Du solltest dich ausruhen“, sagte Elara mit einem milden Tonfall, der fast fürsorglich klang. „Die Nacht ist lang, und du wirst Kraft brauchen. Morgen beginnt deine Reise erst wirklich.“

Amara wollte widersprechen, wollte Antworten auf die Dutzenden von Fragen, die ihr durch den Kopf schossen. Doch eine plötzliche Müdigkeit übermannte sie – die Anstrengung der Reise und die bedrückende Atmosphäre dieses Ortes forderten ihren Tribut. Mit einem erschöpften Nicken folgte sie Elara durch weitere schmale Korridore, bis sie vor einer schweren Holztür stehen blieb.

Die Tür öffnete sich mit einem tiefen Knarzen, und dahinter lag ein Zimmer, das so schlicht und karg war wie der Rest des Schlosses. Ein Bett mit einem dunkelroten Baldachin, ein Kleiderschrank und ein Tisch mit einer einzelnen Kerze darauf – das war alles.

„Ruh dich aus“, sagte Elara und betrachtete Amara mit einem undefinierbaren Blick. „Die Dunkelheit birgt ihre eigenen Prüfungen.“

Bevor Amara Einwände erheben konnte, hatte Elara die Tür geschlossen, und die Stille des Schlosses legte sich wie eine Decke über sie.

Amara lag lange wach. Das Heulen des Windes durch die Gänge klang wie Stimmen, die miteinander flüsterten, und das entfernte Jaulen von Wölfen ließ ihre Gedanken um die einsamen, dunklen Wälder kreisen, die sie umgaben. Sie fühlte sich beobachtet, als ob die Wände des Schlosses selbst Augen hätten.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie setzte sich auf, ließ die Füße auf den kalten Steinboden gleiten und stand auf. Sie wusste nicht, was sie suchte, doch der Drang, sich zu bewegen, war überwältigend.

Mit vorsichtigen Schritten öffnete sie die Tür und trat in den dunklen Gang hinaus. Das Flackern einer entfernten Fackel war das einzige Licht, und ihre Schritte hallten in der stillen Leere wider.

Die Schatten schienen sich zu bewegen, die Dunkelheit atmete fast spürbar. In der Ferne vernahm sie ein Geräusch – ein leises Kratzen, das sich wie Nägel anhörte, die über Stein fuhren. Ihr Herz raste, doch sie ging weiter, angezogen von einer unsichtbaren Präsenz, die sie nicht erklären konnte.

Dann hielt sie inne. Am Ende des Ganges leuchteten plötzlich Augen in der Dunkelheit auf – goldene, durchdringende Augen, die sich unverwandt auf sie richteten. Amara rang nach Atem, unfähig, sich zu bewegen. Die Augen verharrten, glühten wie eine stumme Warnung, bevor sie mit einem plötzlichen Flackern verschwanden, als hätte die Dunkelheit sie verschluckt.

Ihr Atem ging stoßweise, und mit einem panischen Ausbruch rannte sie zurück zu ihrem Zimmer. Die Kälte schien ihr in die Glieder zu beißen, und als sie schließlich die Tür hinter sich zuschlug, bebten ihre Hände.

Was auch immer in diesem Schloss lauerte, es war lebendig. Und es hatte sie gesehen.