Kapitel 1 — Rückkehr der Schatten
Hanna Winter
Das gleichmäßige Rauschen der Wellen prallte gegen die zerklüfteten Klippen, während ein feiner Salznebel die Luft erfüllte. Hanna stand regungslos am Fenster ihres kleinen Hauses, die Hände in die Taschen ihrer dunklen Jacke vergraben. Die Küstenstadt war ein Ort des Vergessens, ein Zufluchtsort, an dem sie nichts und niemand finden sollte. Doch selbst hier erreichten sie die unerbittlichen Schatten der Vergangenheit. Flüsternd krochen sie durch die Stille, suchten sie heim und ließen ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen.
Ihr Blick fiel auf das ungestüme Meer, dessen Wellen sich unbarmherzig und endlos erstreckten. Es war ein Spiegel ihrer Gemütslage – aufgewühlt, rastlos und voller verborgener Abgründe. Der Wind trug den Geruch von Salz und Verfall, während die Gischt auf die Felsen sprühte. Es erinnerte sie an das, was sie verloren hatte – Konstantins vertraute Stimme, Laras zögerliches Lächeln und den unerbittlichen Kampf um die Wahrheit. Frieden war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Ihr Haar, kurz und streng geschnitten, war zu einem Symbol ihres inneren Wandels geworden – keine Ablenkungen, keine Kompromisse. Der Kampf war noch nicht vorbei.
Auf dem schlichten Tisch hinter ihr lag ein Laptop, dessen Bildschirm von Notizen und verschlüsselten Dateien erhellt wurde. Hanna hatte den Tag damit verbracht, die tiefsten Winkel der digitalen Welt zu durchforsten, ein Netz aus alten Kontakten und versteckten Informationen neu zu knüpfen. Elena war irgendwo da draußen – die Puppenspielerin, die immer noch die Fäden zog. Hanna hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jede Spur von ihr und dem Karneval zu tilgen. Doch die Spuren waren spärlich, und die Tage zogen sich wie zäher Nebel.
Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken – ein Klacken, gefolgt von einem dumpfen Knarren. Es kam von der Haustür. Hanna erstarrte, jede Faser ihres Körpers angespannt. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie nicht allein war. Langsam drehte sie sich um und trat näher, ihre Schritte leise auf dem knarrenden Holzfußboden. Sie spähte durch den Türspion, doch niemand war zu sehen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihre Nackenhaare sich aufstellen.
Sie öffnete die Tür einen Spalt und blickte hinunter. Ein cremefarbener Umschlag lag auf den verwitterten Holzdielen der Veranda. Kein Geräusch, keine Bewegung. Hanna zog ihn mit einer schnellen Bewegung hinein und schloss die Tür hinter sich. Kurz verharrte sie dort, die Hand auf dem Türknauf, die andere um den Umschlag gekrampft. Ihre Augen wanderten zu den Fenstern, suchten die Dunkelheit draußen ab. War das eine Nachricht? Eine Warnung? Oder eine Falle?
Zurück am Tisch trat sie in das kühle Licht der Lampe. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Umschlag öffnete. Darin lag ein einziges Foto, glänzend und scharf. Kaum hatte ihr Blick es erfasst, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Konstantin.
Sie konnte sich nicht täuschen. Es war er – das kantige Gesicht, der durchdringende Blick, das selbstbewusste Lächeln. Das Bild zeigte ihn in einer belebten Stadt, die Hanna nicht erkennen konnte. Menschen huschten unscharf an ihm vorbei, doch Konstantin blickte direkt in die Kamera, als ob er genau wüsste, wer dieses Foto sehen würde.
Ihr Atem stockte. Erinnerungen stürzten auf sie ein, überwältigend und schmerzhaft. Die letzte Konfrontation auf dem Maskenball – Konstantins goldene Maske, die im Licht glänzte, das Chaos, das folgte, sein lebloser Körper, der in den Schatten verschwand. Sie hatte ihn tot gesehen. Tot. Und doch war er hier. Oder war das ein Trugbild? Eine gezielte Manipulation? Ein perfider Schachzug von Elena?
Ihre Hände hielten das Foto, während sich ein Sturm widersprüchlicher Emotionen in ihr entlud. Hoffnung und Verzweiflung, Wut und Zweifel rangen miteinander. Sie fühlte, wie ihre Finger um das Papier verkrampften, als ob sie es zerreißen wollte, doch stattdessen zwang sie sich zur Ruhe. Ihre grünen Augen, die Härte gewöhnt waren, zeigten einen kurzen Moment der Verletzlichkeit. „Was ist das für ein Spiel?“, flüsterte sie unwillkürlich.
Sie ließ sich auf den Stuhl sinken, ihre Gedanken wirbelten. Hatte Konstantin sie betrogen? Hatte er ihren Schmerz, ihren Verlust, ihr Leben zu einem weiteren Zug in einem unsichtbaren Spiel degradiert? Oder war er selbst eine Spielfigur, ebenso manipuliert wie sie? Ihre Finger flogen über die Tastatur, während sie die Metadaten des Fotos analysierte. Keine GPS-Daten, keine Zeitangabe, keine Hinweise. Alles war bereinigt. Eine saubere, präzise Botschaft – jemand wollte, dass sie dieses Bild sah.
Das Medaillon – Hannas Blick wanderte zu dem kleinen, eingravierten Relikt, das Lara ihr übergeben hatte. Sie griff danach und drehte es in ihrer Hand. Es war ein Symbol der Vergangenheit, der ungesprochenen Geheimnisse, die sie beide geteilt hatten. Könnte das Medaillon eine Verbindung zu diesem Foto haben? Gab es etwas, das sie übersehen hatte?
Die Nacht verging ohne Antwort. Stattdessen wühlte sie sich durch alte Datenbanken, durchstöberte Kontakte, die sie seit Konstantins Tod nicht mehr angerührt hatte. Doch mit jedem erfolglosen Versuch wuchs das bedrückende Gefühl, dass sie nur an der Oberfläche kratzte. Als die Dämmerung hereinbrach und das erste graue Licht durch das Fenster fiel, hatte sie einen Entschluss gefasst.
Hanna zog ihren Mantel an, steckte das Foto in eine Innentasche und griff nach ihrem Laptop, ihrem Notizbuch und dem Medaillon. Sie würde Raphael kontaktieren. Trotz der komplizierten Vergangenheit, trotz ihres tiefsitzenden Misstrauens, wusste sie, dass er eine Schlüsselrolle spielen könnte. Seine Kenntnisse des Karnevals, seine Verbindungen in die Schattenwelt, waren von unschätzbarem Wert. Doch sie war sich ebenso bewusst, dass Raphael eigene Ziele verfolgte.
Der kalte Wind biss in ihr Gesicht, während sie über den feuchten Küstenweg lief. In der Ferne lag die Stadt, deren Hafen sie in den letzten Wochen gemieden hatte. Heute würde sie zurückkehren. Der Schatten der Vergangenheit hatte sie eingeholt, und dieses Mal würde sie ihm entgegenzutreten – mit offenen Augen und einer Entschlossenheit, die keine Lüge, keine Falle brechen konnte.
„Es ist Zeit“, sagte sie leise zu sich selbst und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.