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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Geister der Vergangenheit


Hanna Winter

Ein kühler, salziger Wind wehte durch die engen, gepflasterten Gassen der Hafengegend und trug den Geruch von Meer und Rost mit sich. Das Grau des frühen Morgens legte sich wie ein schwerer Schleier über die Stadt, und die ersten Lichtstrahlen fanden nur zögernd ihren Weg durch den dichten Nebel. Die Stille war fast surreal, unterbrochen nur vom gelegentlichen Klatschen der Wellen gegen die Kais. Hanna zog den Mantel fester um sich und ging schnellen Schrittes voran, die Augen wachsam, die Gedanken ein unruhiges Durcheinander.

In ihrer Jackentasche lastete das Foto von Konstantin schwerer als jede Realität. Sie spürte es, als wäre es mit einer unsichtbaren Kraft verbunden, die sie nach unten zog. Immer wieder blitzte sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf – dieselben scharfen, selbstbewussten Züge, der eindringliche Blick, der sie einst so sehr fasziniert hatte. Die Möglichkeit, dass er am Leben sein könnte, war ein quälender Gedanke, ein toxischer Mix aus Hoffnung und Zorn. Sie erinnerte sich an den Maskenball, an den Moment, als sie glaubte, ihn verloren zu haben. Sie hatte ihn sterben sehen – oder zumindest dachte sie das. Doch dieses Bild... Es ließ sie an allem zweifeln.

Die Lagerhalle lag am Rand des Industriegebiets. Ihre verrosteten Tore und zerbrochenen Fenster wirkten wie die klaffenden Wunden eines toten Kolosses. Die Umgebung war still, nur das leise Heulen des Windes durch verlassene Metallstrukturen begleitete sie. Hanna blieb stehen und lauschte, ihre Sinne geschärft. Das Gebäude wirkte verlassen, doch irgendetwas in der Atmosphäre ließ ihre Nackenhaare sich aufstellen. Sie schob die Tür mit einem langen, knarzenden Geräusch auf und trat ein.

Der dunkle, weite Raum war erfüllt von einer kühlen Feuchte, die ihre Haut prickeln ließ. Schatten tanzten vor ihr, und das schwache Licht, das durch die zersprungenen Fenster fiel, verlieh der Halle eine gespenstische Aura. Sekunden vergingen, in denen sie nur das Echo ihrer eigenen Schritte wahrnahm. Dann drang eine Stimme durch die Stille, ruhig und glatt, und schnitt wie ein präziser Dolch durch ihre Wachsamkeit.

„Hanna.“

Raphael saß auf einer der wenigen verbliebenen Holzkisten inmitten der Halle, seine Haltung entspannt, doch seine Augen blitzten wachsam. Die Hände auf den Knien gestützt, beobachtete er sie, als würde er jede ihrer Bewegungen analysieren, jede Regung sorgfältig abwiegen. Eine leichte Müdigkeit lag in seinem Blick, doch sie war gut verborgen, fast wie ein Schatten, der sich schnell wieder zurückzog.

„Du bist früh“, sagte er, als sie näher trat.

„Ich nehme an, du auch“, erwiderte Hanna ohne Umschweife, während sie versuchte, die innere Anspannung in ihrer Brust zu unterdrücken.

Raphael zuckte mit den Schultern, ein undeutbares Lächeln spielte um seine Lippen. Er sagte nichts, sondern beobachtete sie weiter, dann wanderte sein Blick zu ihrer Jackentasche. „Also? Was ist so wichtig, dass du mich kontaktierst, obwohl du mir kaum vertraust?“

Seine Worte waren ruhig, doch der Unterton war kaum zu überhören. Hanna hielt inne, dann zog sie das Foto hervor. Ihre Finger verweilten einen Moment zu lange an der Ecke, bevor sie es ihm reichte. Raphael nahm es, sein Blick wanderte über das Bild, und für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen. Seine Schultern spannten sich leicht, seine Finger umfassten die Kante des Fotos ein wenig fester. Es waren subtile Bewegungen, kaum wahrnehmbar, doch für Hanna, die ihn inzwischen gut genug kannte, waren sie so deutlich wie ein Schrei.

„Das ist Konstantin,“ murmelte Raphael schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihr. Seine Stimme hatte an Tiefe gewonnen, sein sonst so kontrollierter Tonfall verriet einen Hauch von Unsicherheit.

„Ich weiß,“ antwortete Hanna knapp, ihre Augen fest auf ihn gerichtet.

„Das ist unmöglich.“

„Und doch siehst du ihn genauso wie ich.“

Eine beklemmende Stille legte sich über die Halle, nur das leise Tropfen von Wasser hallte in der Ferne. Hanna spürte, wie die Spannung in ihr wuchs. „Raphael,“ sagte sie schließlich, ihre Stimme schneidend, „wenn du etwas weißt, das ich nicht weiß, dann ist jetzt der Moment, es zu sagen.“

Raphael ließ das Foto sinken und sah ihr direkt in die Augen. „Ich habe auch Nachrichten erhalten,“ gab er zu, seine Stimme leiser, fast unmerklich zögernd. „Verschlüsselte Dateien, die ich kaum knacken konnte. Fragmente – Bilder, Metadaten, Hinweise, die nicht zueinanderpassen. Nichts Konkretes, aber genug, um mich fragen zu lassen, ob Konstantin wirklich tot ist.“

Hannas Magen zog sich zusammen. „Und du hast mir nichts davon gesagt?“

Er trat einen Schritt näher, seine Stimme wurde eindringlicher. „Weil ich mir nicht sicher war, was es bedeutet. Alles daran schreit nach Manipulation. Wenn Konstantin am Leben ist, dann nur, weil jemand ein sehr gefährliches Spiel spielt – und wir beide darin Figuren sind.“

„Elena,“ murmelte Hanna, mehr eine Feststellung als eine Frage, während sie ihre Fäuste ballte.

Raphael nickte langsam. „Vielleicht. Aber vielleicht auch jemand anderes. Es gibt immer Akteure, die hinter den Kulissen agieren. Du weißt das besser als jeder andere.“

Hanna wandte sich ab, ging einige Schritte in die Dunkelheit, ihre Gedanken rasten. Die Worte ihres Vaters, vor Jahren gesagt, hallten in ihrem Kopf: „Die Welt ist ein Schachbrett, Hanna. Lerne das Spiel, sonst wirst du überrannt.“ Sie hatte das Spiel gelernt – dachte sie zumindest. Doch jetzt fühlte es sich an, als hätte sie die Kontrolle verloren, als säße sie einem unsichtbaren Gegner gegenüber. „Und was ist, wenn er wirklich lebt?“ fragte sie leise, mehr zu sich selbst als zu Raphael.

„Dann müssen wir es herausfinden,“ antwortete Raphael, der ihr gefolgt war. „Aber wir dürfen uns nicht von Emotionen leiten lassen. Nicht von Hoffnung, nicht von Wut. Das ist, was sie wollen.“

Hanna drehte sich um, ihr Blick scharf. „Du redest immer von ‚sie‘. Wer, Raphael? Wer zieht die Fäden in diesem verfluchten Spiel?“

Er erwiderte ihren Blick mit einer Ruhe, die sie frustrierte. „Das ist die Frage, die wir beantworten müssen. Aber eines ist sicher: Jemand will uns in eine bestimmte Richtung treiben. Und wenn wir das nicht durchschauen, dann verlieren wir.“

Die Spannung zwischen ihnen war greifbar, wie ein unsichtbares Band, das sie gleichzeitig verband und voneinander fernhielt. Hanna holte tief Luft. „Also gut,“ sagte sie schließlich, ihre Stimme fester. „Wir tun es auf meine Art. Keine Geheimnisse, keine Winkelzüge. Alles kommt auf den Tisch.“

Raphael lächelte leicht, doch es war ein hartes, kaltes Lächeln. „Geheimnisse sind die Währung, Hanna. Du wirst nicht jede Wahrheit bekommen.“

„Vielleicht nicht,“ entgegnete sie kühl. „Aber ich werde genug herausfinden, um das zu beenden.“

Raphael nickte langsam, fast anerkennend. „Dann sollten wir anfangen. Wenn dieses Foto echt ist, dann weiß jemand mehr, als er preisgibt. Und das bedeutet, dass wir handeln müssen.“

Hanna ließ den Blick über die dunklen Schatten der Halle schweifen. „Dann fangen wir an.“

Mit diesen Worten begann die Suche nach der Wahrheit – ein gefährliches Spiel, bei dem niemand sicher war, wer die Fäden zog.