Kapitel 3 — Die verborgene Botschafterin
Hanna Winter
Die schwere Holztür der alten Bibliothek knarrte leise, als Hanna sie öffnete. Ein sanfter Duft von staubigen Seiten und gealtertem Holz strömte ihr entgegen, weckte Erinnerungen an nächtelange Recherchen, an die Suche nach Geheimnissen, die sie oft mehr gekostet hatten, als sie erwartet hatte. Doch dieser Ort war anders. Die Luft war dicker, fast erdrückend, und die Schatten wirkten lebendig, als ob sie selbst Geschichten erzählten. Kerzen an den Wänden flackerten unruhig, als wollten sie sie warnen, und das gedämpfte Licht tauchte die hohen Regale, die sich scheinbar unendlich in die Dunkelheit erstreckten, in ein unheimliches Halbdunkel.
Hanna trat vorsichtig ein. Ihre Schritte hallten auf den alten Holzdielen wider, ein leises Echo, das von der bedrückenden Stille verschluckt wurde. Ihre Augen wanderten aufmerksam von Regal zu Regal, während sie jeden Winkel der Bibliothek absuchte. Sie fühlte die Schwere des gefalteten Fotos in ihrer Manteltasche, als ob es sich mit jedem ihrer Schritte tiefer in ihren Gedanken verankerte. Für einen Moment zuckten ihre Finger, der Drang, das Bild noch einmal zu betrachten, war fast überwältigend. Doch sie hielt inne, schüttelte den Gedanken ab. Die Antworten, die sie suchte, lagen nicht in Konstantins Gesicht – zumindest nicht hier.
Ein leises Kratzen durchbrach die Stille. Ein Schatten huschte durch den Raum, kaum wahrnehmbar, und ließ Hannas Anspannung wachsen. Sie hielt den Atem an, ihre Hand glitt in ihre Manteltasche und schloss sich um das kalte Metall des Messers, das sie immer bei sich trug.
„Sie haben es tatsächlich gewagt, zu kommen.“
Die Stimme war ruhig, beinahe melodisch, und kam aus einer dunklen Ecke des Raumes. Ihr Klang ließ einen unwillkürlichen Schauer über Hannas Rücken laufen. Sie drehte sich langsam um, die Finger um das Messer gekrallt, bereit für jede mögliche Bedrohung.
Eine Frau trat aus den Schatten hervor, ihre Bewegungen geschmeidig und bedacht. Sie war groß und elegant, ihr maßgeschneiderter dunkler Mantel umschmeichelte ihre schlanke Figur. Ihre blassen blauen Augen schimmerten im schwachen Kerzenlicht, und ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen – ein Lächeln, das nicht ganz die Kälte in ihren Augen erreichte.
„Hanna Winter,“ sagte die Frau, ihren Kopf leicht neigend, als würde sie ein Kunstwerk betrachten. „Ich bin Isabella. Und bevor Sie fragen – ja, ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“
Hanna ließ sie nicht aus den Augen, während sie einen Schritt näher trat. Ihre Haltung blieb angespannt, ihre Stimme messerscharf, als sie antwortete: „Helfen? Niemand taucht in diesem Spiel auf, ohne etwas zu wollen. Was ist Ihr Ziel?“
Isabella lächelte, ein kaum merkliches Zucken ihrer Mundwinkel, das mehr Berechnung als Wärme verriet. „Verständlich, dass Sie misstrauisch sind,“ sagte sie, ihre Stimme blieb sanft und kontrolliert. „Das ist es, was dieses Spiel mit uns allen macht, nicht wahr? Aber lassen Sie mich Ihnen versichern, Frau Winter: Meine Absichten sind nicht so undurchsichtig, wie Sie vielleicht glauben.“
Sie griff in ihre Manteltasche und zog ein Medaillon hervor, das matt im Kerzenlicht glänzte. Die Gravuren darauf waren kunstvoll und wirkten vertraut – zu vertraut. Sie erinnerten Hanna an die Masken des Karnevals, an seine unerbittlichen Regeln und verborgenen Wahrheiten. Ein kalter Schauer durchlief sie, als sie das Medaillon betrachtete, das in Isabellas Hand ruhte wie ein Relikt aus einer anderen Welt.
„Was ist das?“ fragte Hanna, ihre Stimme kühl, während sie näher trat.
„Ein Schlüssel,“ antwortete Isabella leise, fast ehrfürchtig. Sie ließ das Medaillon in ihrer offenen Handfläche gleiten, als wäre es sowohl ein Schatz als auch eine Last. „Ein Schlüssel zu Informationen, die Sie dringend benötigen, um Elena zu stoppen. Ich nenne es die verborgene Botschaft des Karnevals.“
Hannas Augen verengten sich, als sie das Medaillon genauer betrachtete. „Warum sollte ich Ihnen glauben?“ fragte sie, ihre Stimme triefte vor Misstrauen. „Niemand in diesem Spiel ist ohne eigene Agenda. Was wollen Sie tatsächlich?“
„Ich will, dass Sie gewinnen,“ entgegnete Isabella schlicht. Ihr Blick blieb auf Hanna gerichtet, ihre Augen bohrten sich in die ihren. „Ich selbst habe viel durch den Karneval verloren. Elena und der Puppenspieler… Sie sind nur Teile eines größeren Spiels. Wenn wir sie nicht stoppen, wird das, was kommt, noch zerstörerischer sein.“
Hanna zuckte kaum merklich zusammen. Die Erwähnung des Puppenspielers ließ eine Welle von Erinnerungen und Gefühlen in ihr aufsteigen – Wut, Verlust, Entschlossenheit. Ihre Finger zuckten erneut, diesmal in Richtung des Medaillons, doch sie hielt inne.
„Und was genau erwarten Sie von mir?“ Ihre Stimme war leise, beinahe ein Flüstern, doch ihre Härte war unüberhörbar.
„Dass Sie Ihren Verstand nutzen,“ sagte Isabella, ihre Stimme fest, aber nicht unfreundlich. „Dieses Medaillon… es enthält Hinweise auf das Netzwerk des Puppenspielers und auf Elenas Pläne. Doch der Weg, den es Ihnen zeigt, wird gefährlich sein. Sie müssen vorsichtig sein, wem Sie vertrauen. Ihr Verstand ist Ihre beste Waffe in diesem Spiel – und Ihr Herz Ihr größter Feind.“
Hanna starrte Isabella an, ihre Gedanken rasten. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Wenn das Medaillon auch nur einen Bruchteil dessen enthielt, was Isabella behauptete, war es entscheidend für ihren Kampf. Doch die Unsicherheit, die sie in Isabellas Augen sah, hielt sie zurück. „Warum jetzt?“ Ihre Stimme war schneidend. „Warum kommen Sie zu mir?“
Ein Schatten huschte über Isabellas Gesicht. „Weil die Zeit drängt,“ sagte sie schließlich. Ihre Worte waren ruhig, doch die Spannung in ihrer Haltung verriet mehr, als sie preisgab. „Und weil ich weiß, dass Sie die Einzige sind, die dieses Spiel zu Ende führen kann.“
Hanna spürte, wie sich ihre Finger um das Medaillon schlossen. Das Metall war kühl, fast eisig, und fühlte sich schwerer an, als sie erwartet hatte, als würde es mehr bedeuten, als nur ein einfacher Schlüssel zu sein.
„Wie funktioniert es?“ Ihre Stimme war angespannt, ihre Augen suchten Isabellas Gesicht nach einem Hauch von Täuschung ab.
„Das werden Sie selbst herausfinden müssen,“ antwortete Isabella. „Doch hören Sie meinen Rat: Vertrauen Sie niemandem blind. Und seien Sie gewarnt – dieses Spiel hat seine eigenen Regeln, die Sie noch nicht verstehen.“
Isabella trat einen Schritt zurück, ihr Blick kühl, doch in ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit, der Hanna nicht entging. „Sie wissen, wo Sie mich finden, wenn Sie mehr Antworten brauchen.“
Bevor Hanna etwas erwidern konnte, wandte sich Isabella um und verschwand im Schatten der Bibliothek. Ihre Schritte waren leise, doch das Echo hallte in Hannas Ohren nach, begleitet von einer bedrückenden Stille, die den Raum einnahm.
Hanna betrachtete das Medaillon in ihrer Hand, ihre Gedanken wirbelten. Es fühlte sich an wie eine Kette, die sie noch tiefer in die Dunkelheit des Karnevals zog, doch sie wusste, dass sie keine Zeit hatte, zu zögern.
Als sie die Bibliothek verließ, traf der kalte Wind des Hafens sie wie eine Welle, doch sie ließ sich nicht beirren. Das Medaillon lag schwer in ihrer Tasche, und mit jedem Schritt wuchs die Entschlossenheit in ihr. Sie würde das Spiel zu Ende führen – egal, was es kostete.