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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Am Rand der Stille


Laila und Taren

Der Morgen breitete sich über den nördlichen Grenzpfad aus, doch das Licht kämpfte sich nur mühsam voran. Es wirkte schwach und kraftlos, gefangen in den dichten Baumkronen, die sich über ihnen wölbten. Laila und Taren schritten den Pfad entlang, ihre Stiefel scharrten über den Boden, doch kein Echo kam zurück. Die Äste verharrten regungslos, kein Knarren, kein Flüstern durchbrach die Stille. Die Luft lag schwer und unbewegt auf ihrer Haut, als hätte der Wald den Atem angehalten.

Laila blieb stehen, ihr Atem ging flach. Ihr Blick wanderte nervös zwischen den grauen Baumstämmen umher, suchte nach etwas, das sie nicht greifen konnte. „Spürst du es auch?“

Taren nickte langsam, sein Kiefer angespannt. „Als würde der nächste Schritt all das hier in einen Traum verwandeln.“

Über ihnen schimmerte ein seltsamer Lichtkreis im Dunst, weder Sonne noch Mond, nur ein blasser, unveränderlicher Fleck am Himmel. Die Welt um sie herum schien vertraut – Bäume, Wurzeln, Moos – und doch war alles falsch, verzerrt wie in einem krummen Spiegel. Der Raum fühlte sich zusammengefaltet an, die Zeit gedehnt wie ein dünner Faden.

Unter Lailas Haut prickelte es scharf und unruhig. Es waren nicht nur ihre Nerven; es fühlte sich an, als würde der Wald sie von innen betrachten, sein Blick gegen ihre Knochen drücken. Sie bewegte ihre Finger, tastete nach dem Puls ihrer Magie. Diese regte sich träge, eine verzögerte Welle, die von einem fernen, unsichtbaren Ufer herüberrollte. Ihre Brust zog sich zusammen bei dieser Fremdheit, bei der Verzögerung von etwas, das einst sofort auf ihren Ruf reagiert hatte.

Tarens Haltung veränderte sich, seine Schultern strafften sich, seine Augen verengten sich, während er die stille Weite absuchte. Seine Jägerinstinkte loderten auf, schärfer hier, durchdrangen die Stille. Das war kein Wald mehr – nicht der, den er kannte. Er trug die Gestalt eines Waldes, doch darunter lauerte etwas anderes, das sich als wild ausgab. Sein Wolf regte sich in ihm, die Nackenhaare gesträubt, ein leises Knurren vibrierte tief in seinem Inneren. Gefahr schwebte in der Luft, doch sie entzog sich jeder Form, glitt ihm immer wieder durch die Finger.

Sie standen da, gefangen in der unheimlichen Stille, der Pfad erstreckte sich vor ihnen in gedämpfte Schatten. Die spiegelgleiche Symmetrie abgebrochener Zweige und verdrehter Wurzeln säumte ihren Weg, beunruhigend in ihrer Präzision. Was auch immer dieser Ort war, er beobachtete sie, und sie spürten das Gewicht seines Blicks.

* * *

Nebel waberte den Pfad entlang, ein geisterhafter Schleier, der selbst das schwache Grau des zeitlosen Waldes dämpfte. Laila und Taren schoben sich vorwärts, ihre Schritte vorsichtig, hallten leise wider, bevor der Klang sich selbst verschluckte. Vor ihnen durchdrang ein einzelner Baum den Dunst, seine Rinde bleich wie Knochen, durchzogen von dünnen, gewundenen Linien, die schwach pulsierten, lebendig unter der Oberfläche. Die Stille um ihn herum zitterte, eine zerbrechliche Spannung, die nur darauf wartete, zu bersten.

Laila erstarrte, ihr Atem stockte. Ein Flüstern – nein, kein Geräusch, sondern ein Ziehen – griff nach ihrem Innersten. Es wurde nicht gehört, sondern gefühlt, tief in ihren Knochen. Der Wald kannte sie, formte ihren Namen in der Stille, eine Beschwörung, die durch ihre Adern brandete. Ihre Stiefel knirschten näher, unwillkürlich angezogen, bis ihre Hand über der Rinde schwebte. Die Linien darunter schienen sich zu bewegen, zeichneten Muster, die ihren Augen entglitten.

Ihre Fingerspitzen berührten die Oberfläche. Ein Schock durchfuhr sie, scharf und elektrisch, und die Welt zerbarst. Die Stimme ihrer Mutter strömte herein, sanft und doch dringlich, intonierte Worte eines uralten Zaubers, den Laila nicht kannte. Die Luft wurde schwer vom Duft feuchter Erde und etwas Älterem, Schwererem – eine Präsenz, die jenseits des Sichtbaren atmete. Ihr Blick verschwamm mit Fragmenten: Kaelas Hände, die unsichtbare Fäden woben, ein Schatten, der am Rand lauerte, und eine Wärme, die nicht ihre eigene war. Dann schnappte alles zurück, ließ sie keuchend stehen.

Licht flammte von ihren Fingern auf, zunächst schwach, dann beständig, ein blasses Glühen, das sich wie suchende Wurzeln nach außen verzweigte. Es war nicht nur ihre Magie; der Wald antwortete, beanspruchte sie als seine eigene. Ihr Puls hämmerte, das Gewicht der Erkenntnis lastete schwer. Sie trug etwas – Macht, Bestimmung –, worauf dieser Ort gewartet hatte.

Tarens scharfer Atemzug riss sie aus ihrer Trance. Er stand starr da, die Augen auf die glühenden Ranken gerichtet, die von ihrer Hand ausgingen. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“ Seine Stimme war leise, doch von Gewissheit durchdrungen. „Wir haben eine Grenze überschritten. Dieser Ort – er hat seine eigenen Regeln, und wir spielen nach ihnen, ob wir wollen oder nicht.“

Laila warf einen Blick auf den Pfad hinter ihnen, halb in der Erwartung, dass er verschwunden war. Der Nebel hing dort dichter, verdeckte, was einst gewesen war. Ihre Finger kribbelten noch immer, das Licht wurde schwächer, doch es erlosch nicht. Was auch immer vor ihnen lag, der Wald hatte sie gezeichnet, und ein Rückzug war keine Option mehr.

* * *

Laila und Taren drangen tiefer in den Wald ein, der Nebel klebte an ihrer Haut wie ein kalter Hauch. Der Pfad unter ihren Füßen wirkte vertraut – zu vertraut. Dieselbe knorrige Wurzel schlängelte sich über den Weg, ihre Form war Laila von Minuten zuvor ins Gedächtnis gebrannt. Ein gefallener Stamm, am gleichen gezackten Winkel geborsten, ragte vor ihnen auf, identisch mit einem, den sie bereits passiert hatten. Selbst die Biegung des Pfades krümmte sich auf eine Weise, die an ihren Nerven zerrte, ein Kreis, der sich schloss.

Taren hielt an, sein Kiefer angespannt. Er zog sein Messer aus der Scheide, die Klinge blitzte kurz auf, bevor er sich neben einen Baum kniete. Mit schnellen, präzisen Schnitten ritzte er einen groben Strich in die Rinde, tief genug, um hervorzustechen. „Wir irren nicht blind umher“, murmelte er, stand auf und wischte die Klinge an seinem Ärmel ab. „Mal sehen, ob sich dieser Ort erinnert.“

Sie drängten weiter, die Stille schwoll unnatürlich um sie herum an. Lailas Blick huschte zwischen den Bäumen hin und her, zählte Schritte, um sich zu verankern. Doch bald drehte sich ihr Magen um. Da war er – derselbe Baum, der Schnitt starrte ihnen entgegen. Nur stand er nun auf der gegenüberliegenden Seite des Pfades, als hätte der Wald sich verschoben, nur um ihre Bemühungen zu verhöhnen.

Laila hielt inne, ihre Finger bewegten sich instinktiv. Sie griff nach innen, zog an den Strömungen ihrer Magie, suchte einen Faden, der sie leiten könnte. Doch der Fluss wand sich nach innen, spiralförmig enger, anstatt sich auszudehnen. Er wirbelte in ihrem Griff, ein verworrenes Knäuel, das sich weigerte, irgendwohin zu zeigen. Ihre Brust zog sich zusammen. Das war ihre Stärke, ihr Anker – und er entglitt ihr.

Etwas rührte sich, nicht oben, sondern tief unten. Ein uraltes, unerbittliches Gewicht pulsierte unter der Erde und beobachtete. Laila erstarrte, ihr Atem ging flach, während sie spürte, wie dieser Blick durch den Boden drang und sie an Ort und Stelle festnagelte. Neben ihr lag Tarens Hand auf dem Griff seines Dolches, noch nicht gezogen, aber bereit. Seine Augen durchforsteten das Unterholz, die Muskeln angespannt, während tiefe Falten der Frustration sein Gesicht zeichneten. Er konnte nicht zuschlagen, wenn er nichts sah, und diese Ohnmacht fraß an ihm.

Laila zwang sich, eine ruhige Miene zu bewahren, und verbarg die Panik, die in ihr wütete. Der Wald führte sie nicht nur im Kreis – er spiegelte ihre Zweifel wider, ihren immer schwächer werdenden Griff um die Magie, auf die sie angewiesen war. Jeder Schritt hallte ihre Unsicherheit wider, und sie verabscheute es.

Taren bewegte sich leicht, seine Stimme war leise, aber schneidend. „Das ist kein Spiel. Etwas hält uns an der Leine, und ich habe verdammt nochmal keine Lust mehr zu tanzen.“ Seine unterdrückte Wut spiegelte die ihre, brodelte dicht unter der Oberfläche, angefacht von einem Feind, den sie beide nicht benennen konnten.

* * *

Laila und Taren schleppten sich den endlos sich wiederholenden Pfad entlang, das Gewicht unsichtbarer Blicke lastete mit jedem Schritt schwerer auf ihnen. Die verzerrte Wiederholung von Wurzeln und Schatten zehrte an ihrer Entschlossenheit, eine stille Verhöhnung des Waldes. Plötzlich hielt Laila mitten im Schritt inne. Vor ihr erhob sich ein Baum, der eben noch nicht da gewesen war. Seine Gestalt war unnatürlich, verdreht, als wäre er aus Leid geformt, die Äste nach innen gekrümmt wie geballte Fäuste. Die Rinde klaffte in einem gezackten Spalt auseinander, und aus dem Inneren pulsierte ein schwaches, blau-silbernes Licht, schimmernd wie der Rand eines vergessenen Traums.

Sie trat näher, angezogen von einer Kraft, die sie nicht benennen konnte. Ihre Hand schwebte nahe an dem Glanz, die Fingerspitzen zitterten. Und in diesem angehaltenen Moment glitt eine Stimme durch die Stille. Sanft, kaum hörbar, trug sie die Wärme einer Erinnerung – den Klang ihrer Mutter. Kein Schrei, kein Flehen, nur eine Präsenz, die wie ein halb vergessenes Lied verweilte.

Laila erstarrte, der Atem stockte in ihrer Kehle, ihr Blick war auf das Licht geheftet. Jeder Muskel spannte sich, während der Klang sich durch sie webte und eine Sehnsucht weckte, die sie tief in sich begraben hatte.

Taren trat neben sie, seine Brauen zogen sich zusammen, während er ihr Gesicht musterte. „Das ist eine Illusion“, knurrte er, obwohl ein leichtes Zittern seine Gewissheit unterminierte. Seine Hand ruhte nahe an seinem Messer, bereit, sie zurückzuziehen, falls nötig.

Lailas Finger verharrten in der Luft, die Stimme schlang sich enger um ihr Herz. Sie spürte es – einen Durchgang, eine Schwelle, verborgen im gebrochenen Kern des Baumes. Doch der Preis schimmerte knapp außerhalb ihrer Reichweite, ein Schatten, den sie nicht entschlüsseln konnte. Ihre Brust schmerzte unter diesem Gewicht. Schließlich zog sie die Hand zurück und trat vom Glanz weg.

Das blau-silberne Licht erlosch und ließ nur rissige Rinde zurück.

Erst dann veränderte sich der Wald. Die bedrückende Schleife des Pfades löste sich auf, und ein neuer Weg öffnete sich vor ihnen – vorwärts, unberührt von Wiederholung. Schweigend gingen sie weiter, ihre Stiefel knirschten auf unsichtbarem Kies, und sie weigerten sich, über ihre Schultern zu blicken.

Die Illusion hatte einen Ausweg vor ihnen baumeln lassen, eine Verbindung zu dem, was verloren war. Doch indem sie sich abwandten, hatten sie ihren eigenen Weg freigeschnitten und die Vergangenheit flüsternd im Dunkeln zurückgelassen.

* * *

Laila und Taren drängten auf dem neu offenbarten Pfad voran, während die Stille des Waldes dichter wurde, fast greifbar. Die Bäume teilten sich ohne Vorwarnung und gaben den Blick auf einen See frei – eine Fläche aus Schwarz, so makellos, dass sie polierten Obsidian glich. Kein Lufthauch störte die Oberfläche. Keine Vögel durchbrachen die Stille. Nur eine Ruhe, die sich an die Haut klammerte, schwer und falsch. Ihre Spiegelbilder starrten aus der glasigen Leere zurück, doch die Bilder wirkten … verzerrt. Gesichter zu ruhig. Bewegungen, die eine halbe Sekunde verzögert waren, als wären sie in einem Echo gefangen.

Laila trat an den Rand des Wassers, ihre Stiefel sanken in die feuchte Erde. Ihr Spiegelbild blickte unverwandt zu ihr auf. Dann kräuselten sich seine Lippen zu einem schwachen, wissenden Lächeln – bevor ihr eigenes Gesicht sich bewegte. Ein Ruck durchfuhr ihre Brust, scharf wie eine Klinge. Sie stolperte zurück, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, der Atem flach und abgehackt.

Tarens Kiefer spannte sich, als er einen Stein aufhob und ihn mit einem Schwung seines Handgelenks in den See schleuderte. „Zerbrich es“, murmelte er, seine Stimme leise, fast ein Knurren. Der Stein traf die Oberfläche und sandte Wellen in langsamen, bedächtigen Kreisen nach außen. Die verzerrten Bilder ihrer Gesichter zerschellten, splitterten in gezackte Stücke – doch etwas regte sich darunter. Ein tiefes Summen erhob sich, zerbrochene Stimmen krochen aus den Tiefen empor, wie Flüstern, gefangen in einer vergessenen Höhle. Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren, sickerten in die Luft – Bruchstücke von Lachen, Schreien, Gemurmel längst begrabener Namen. Der See *erinnerte sich* an jene, die zuvor seine Ufer betreten hatten.

Unter dem Durcheinander schnitt eine Stimme hindurch, verzerrt und hohl, als würde sie über zerbrochenes Eis gezogen. Luciens Klang, unverkennbar, hallte in Fragmenten wider, Worte zu zerstückelt, um sie zu erfassen. Lailas Finger flogen zu dem Anhänger an ihrem Hals, umklammerten das kühle Metall, bis ihre Knöchel weiß wurden. Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren. Ein weiterer Test. Der Wald legte ihre Narben bloß, forderte sie heraus, erneut zurückzuzucken.

Tarens Blick zuckte zu ihr, seine Haltung starr, bereit, sich zu bewegen. „Wir bleiben nicht“, presste er hervor und wandte sich bereits vom Ufer ab.

Schweigend gingen sie weiter, ihre Stiefel hinterließen Spuren, weg vom See. Das Gewicht jener Spiegelbilder blieb hinter ihnen, folgte ihren Schritten nicht mehr. Regungslos.