Kapitel 2 — Flüstern der Verzerrung
Laila und Taren
Laila und Taren überschritten eine unsichtbare Grenze, und der Wandel traf sie wie eine eisige Wand. Die Luft verdichtete sich, wurde schwer wie Rauch, obwohl kein Hauch von Verbranntem darin lag. Geräusche verloren sich – jeder Schritt wurde gedämpft, verschluckt von einer erdrückenden Leere. Die Bäume ringsum standen nackt, ihre Rinde pechschwarz verkohlt, doch als Laila mit den Fingern über einen Stamm strich, fühlte sich die Oberfläche kalt und unnatürlich glatt an, wie polierter Stein, der sich als Holz verkleidete.
Ein Schauer kroch unter ihre Haut, Magie pulsierte hier, fein wie Asche, die in das Mark der Erde gewebt schien. Ihre Brust zog sich bei jedem Atemzug zusammen, als würde das Gewicht vergessener Dinge nach innen drängen. Ungebetene Echos regten sich – das Kichern eines Kindes, das sie einst gewesen war, der rhythmische Gesang der Zauber ihrer Mutter, Kaels tiefe Stimme, die ihren Namen durch den Nebel der Erinnerung rief. Jedes Fragment zerrte an ihr, scharf und beharrlich, drängte sie, in die Vergangenheit zurückzukehren.
Neben ihr verlangsamte Taren seine Schritte, seine Bewegungen bedacht und kontrolliert. Ein Druck legte sich wie Eisen um seinen Brustkorb, er erdete ihn, doch zugleich zerrte etwas an seinem Inneren. Sein Blick wanderte zu den Rändern des Pfades, wo Schatten flackerten – halb geformte Gestalten, Gesichter längst Vergangener schimmerten kurz auf, bevor sie sich auflösten. Waren es Geister eines verlorenen Rudels oder, schlimmer noch, Teile seiner selbst, die im Dunst verschwanden? Er presste die Kiefer zusammen, weigerte sich, die Unruhe zu zeigen, die an ihm nagte.
Schweigend bewegten sie sich vorwärts, der Griff der Illusion wurde mit jedem Meter enger. Lailas Puls hämmerte, Unbehagen fraß an ihren Nerven, doch sie zwang sich, nach vorn zu blicken. Angst nährte diesen Ort – sie spürte seinen Hunger. Sich darauf einzulassen, wäre eine Kapitulation, die sich keiner von ihnen leisten konnte. Ihre Hand streifte kurz Tarens Arm, ein Anker in der verzerrten Realität, der sie im Jetzt festhielt.
Seine Augen trafen ihre, eine stille Bestätigung. Der Kontakt stabilisierte auch ihn, eine Rettungsleine gegen das Gefühl, zu verblassen, zu einem weiteren Schatten unter den Bäumen zu werden. An diesem Ort, wo Erinnerungen in die Gegenwart sickerten und versuchten, sie neu zu formen, klammerten sie sich an den unausgesprochenen Faden zwischen ihnen. Es ging nicht nur ums Überleben – es war der trotzige Wille, real zu bleiben, nicht ausgelöscht zu werden vom Gewicht dessen, was einst war.
* * *
Laila und Taren drangen tiefer in den Wald ein, die Luft wurde mit jedem Schritt schwerer. Nebel schlängelte sich um ihre Knöchel, weiße Fäden krochen durch das Unterholz wie lebendige Wesen auf der Suche nach Wärme. Feuchtes Moos gab unter ihren Stiefeln nach, ein gedämpftes Knirschen durchbrach die Stille, doch selbst dieses Geräusch wurde von der bedrückenden Ruhe verschluckt. Taren übernahm die Führung, seine Schultern gestrafft, die Sinne geschärft. Jedes Rascheln, jede Bewegung im Dämmerlicht ließ ihn aufmerksam nach vorn blicken. Bis er abrupt stehen blieb, scharf wie eine gezogene Klinge.
„Spürst du das? Als würde … etwas uns beobachten.“
Laila nickte knapp, ihr Herz schlug leiser, aber schneller, ein Rhythmus, den sie nicht abschütteln konnte. Ihre Haut prickelte, nicht vor Kälte, sondern von einem Bewusstsein, das sie nicht greifen konnte. Vorsichtig schoben sie sich vorwärts, zwängten sich durch eine schmale Lücke zwischen zwei schiefen Bäumen, deren knorrige Stämme so eng beieinanderstanden, dass die raue Rinde ihre Schultern streifte. Der Durchgang presste sie zusammen, und mitten im Schritt erstarrte Laila.
Ein Geräusch – oder vielmehr die Abwesenheit davon – erblühte in ihrem Kopf. Es wurde nicht gesprochen, war kein Wort, sondern eine Präsenz, die aus dem Kern des Waldes nach ihr griff, mit unsichtbaren Fingern nach ihr tastete. Fast ein Name. Fast ihrer. Es zerrte an etwas Vergrabenem, ein Faden des Wiedererkennens, zu schwach, um ihn zu fassen, aber zu real, um ihn zu ignorieren.
Ihr Atem stockte. Ihre Finger schossen vor, umklammerten den nächstgelegenen Stamm, die Rinde biss in ihre Handfläche, während sie sich gegen die Welle stemmte, die durch sie hindurchrauschte.
Taren wandte sich um, seine Augen verengten sich bei der plötzlichen Veränderung ihrer Haltung, der Art, wie ihr Körper sich spannte wie eine Bogensehne.
„Was ist los?“
„Ich … ich weiß nicht. Jemand hat mich gerufen. Aber nicht mit Worten. Es war … fast ein Name. Fast meiner.“
Sie stand wie angewurzelt da, klammerte sich an etwas Unsichtbares, ihr Blick fern, als sähe sie in eine Leere, die nur sie wahrnahm. Sie machten ein paar weitere vorsichtige Schritte, das Gewicht des Waldes lastete auf ihnen, und ebenso plötzlich löste sich das Gefühl auf. Es hinterließ eine Spur, eine leise Gewissheit, dass etwas in ihr sich geregt hatte. Etwas längst Schlummerndes hatte geantwortet, auch wenn der Grund ein Schatten blieb, gerade außerhalb ihrer Reichweite.
* * *
Laila und Taren schleppten sich weiter durch die zunehmende Dämmerung, bis die zerklüftete Silhouette einer verlassenen Steinbrücke vor ihnen aufragte, ihre moosbedeckten Bögen sackten unter dem Gewicht vergangener Jahre zusammen. Sie ließen sich an ihrem Fuß nieder, wo der Boden in eine flache Mulde abfiel, geschützt durch den Überhang gezackter Felsen. Taren machte sich wortlos an die Arbeit, sammelte spröde Zweige und schlug mit geübten Händen Feuerstein. Ein kleines Feuer flackerte zum Leben, sein schwaches Licht tanzte über den aufragenden Stein und warf dünne, zitternde Schatten, die sich unnatürlich gegen das alte Mauerwerk zu winden schienen.
Laila hockte abseits, ihren Umhang fest um die Schultern gezogen, nicht wegen der Kälte, sondern als Schutz vor dem seltsamen Erwachen, das sich in ihrer Brust regte. Ihre Finger krampften sich in den groben Stoff, die Knöchel blass, während ihr Blick schwer und fern wirkte. Die magere Ration aus getrocknetem Fleisch und Brot lag unberührt in ihrem Schoß, ihr Appetit begraben unter einer nagenden Unruhe, die sie nicht benennen konnte. Sie hatte heute eine unsichtbare Grenze überschritten – sie spürte es in ihren Knochen –, doch was jenseits wartete, blieb eine dunkle, unerforschte Leere.
Taren saß auf der anderen Seite des Feuers, seine scharfen Augen verfolgten jede ihrer Regungen, die Art, wie sie schien, aus demselben unnachgiebigen Stein wie die Brücke selbst geschnitzt zu sein. Er stocherte mit einem Stock in den Flammen, Funken stoben empor, bevor er die Stille mit einer Stimme brach, ruhig wie ein stiller Teich, ihre Tiefen prüfend.
„Wenn du einen Namen hörst … sprich ihn nicht aus. Gib ihm keine Wurzeln.“
Laila senkte das Kinn in einem schwachen Nicken, doch ihre Augen verrieten keine Zustimmung, nur eine leise, beunruhigende Gewissheit, die wie Hitzeflimmern über Asphalt schimmerte. Ihre Lippen blieben fest zusammengepresst, hüteten, was auch immer unter der Oberfläche brodelte.
In dieser Nacht wollte der Schlaf einfach nicht kommen. Während Taren sich schließlich in der Nähe des Feuers ausstreckte, sein Atem ruhig und gleichmäßig, blieb Laila aufrecht sitzen, den Rücken an eine kalte Steinplatte gelehnt. Ihr Blick haftete auf dem zerbrochenen Antlitz der Brücke, wo sich Risse wie Spinnweben durch den verwitterten Fels zogen, in Mustern, die ihrem Verstand fremd waren – und doch regte sich tief in ihrem Inneren etwas als Antwort darauf. Es schien, als flüsterten die gezackten Linien in einer Sprache, die sie vielleicht in einem anderen Leben gekannt hatte, begraben unter Schichten von Staub. Sie schienen Erinnerungen zu necken, die sie nicht greifen konnte, die sie aber verzweifelt zu verstehen versuchte.