Kapitel 3 — Gesicht ohne Zeit
Laila
Laila und Taren drangen tiefer in die Grenzzone des verzerrten Waldes ein, wo eine Stille wie ein Schraubstock alles erdrückte und jedes Rascheln, jeden Atemzug erstickte. Die Luft war schwer, dicht von einer erwartungsvollen Ruhe, als ob die Bäume selbst sich vorbeugten, die Ohren gespitzt nach verborgenen Geheimnissen. Kein Vogel rief, kein Zweig knackte unter ihren Füßen – nur ihre eigenen Herzschläge pochten im Nichts, ein gedämpftes Trommeln gegen die bedrückende Stille. Die seltsam symmetrischen Bäume ragten hier enger zusammen, ihre knorrigen Wurzeln verwoben sich mit dem steinigen Boden wie Adern durch Fleisch und schlossen die Erde in einen stillen Pakt.
Vor ihnen tauchte eine Struktur aus dem fahlen Dunst auf, eine Anomalie, zusammengesetzt aus widersprüchlichen Fragmenten der Wirklichkeit. Moosbedeckte Steine formten gezackte Wände, durchsetzt mit verzogenem Metall, das in einem fremdartigen Schimmer glänzte, gebogen in Formen, die jeder Logik widersprachen. Gebleichte Knochen hingen in zarten Arrangements, schwebend wie makabre Glockenspiele, obwohl kein Lufthauch sie berührte. Die Schwelle flimmerte, eine Naht zwischen dem rohen Puls der Natur und einem vergessenen Hauch von Magie – so kraftvoll, dass sie die Luft selbst zu wellen schien und die Grenzen verwischte, wo die Behausung begann und der Wald endete.
Aus der schattigen Höhlung des Eingangs trat eine Gestalt hervor. Inali. Ihre Präsenz trug das Gewicht von Äonen, eine Kraft, die vom Zermahlen der Zeit gezeichnet, doch ungebrochen war und von ihrer gebeugten Gestalt wie Hitze von sterbenden Kohlen ausstrahlte. Ihre Augen, eingebettet in ein Gesicht, das von unzähligen Wintern geprägt war, durchdrangen Laila mit einer müden, schneidenden Klarheit – zu viel wissend, nichts preisgebend. Strähnen silbernen Haares umrahmten ihre verwitterte Haut, und ihre Hände, knorrig wie die Wurzeln um sie herum, umklammerten einen Stab, der leise zu summen schien, lebendig vor Geheimnissen.
„Ihr kommt zu spät“, krächzte sie, ihre Stimme ein trockenes Schaben gegen die Stille, mit einer Endgültigkeit, die schärfer als jede Klinge schnitt.
Bevor Laila die Lippen öffnen oder Taren seine Haltung verändern konnte, löste sich Inali in den schattigen Schlund der Behausung auf, ihre Gestalt vom Dunkel verschluckt, als hätte sie nie dort gestanden. Die Stille strömte zurück, dichter nun, drückte gegen ihre Haut und ließ keinen Raum für Fragen, nur das Echo ihrer Worte hing wie ein Gewicht in der reglosen Luft.
* * *
Laila zögerte an der Schwelle von Inalis Behausung, ihre Finger strichen über die rauhe Kante, wo Wurzeln sich mit Stein verflochten. Drinnen schnitten Schatten einen Raum unnatürlicher Geometrie heraus, Wände geformt aus dicken, geschmeidigen Wurzeln, die mit aschgrauem Fels verwoben waren, als hätte der Wald selbst diese Höhle über Jahrhunderte erschaffen. In einer Ecke lag kalte Asche verstreut, dunkle Schmierflecken vermischten sich mit verkohlten Runen, die in den Boden geätzt waren – Überreste von Zaubern, die längst erloschen waren, ihr Zweck der Zeit verloren. Die Luft trug ein Gewicht, durchzogen vom Geruch uralten Verfalls, versengter Magie und etwas Tieferem, wie dem Moschus von Erinnerungen, die an jeder Oberfläche hafteten. Die Stille pulsierte hier, nicht leer, sondern lebendig, eine Präsenz, die gegen ihre Haut drückte.
Taren verweilte draußen, seine Silhouette ein fester Anker gegen den verzerrten Wald. Sein Blick brannte in ihrem Rücken, schützend, wachsam, doch er schwieg, als sie vorantrat. Die Dunkelheit verschlang sie, die Schwelle schloss sich hinter ihr mit einem Flüstern sich verschiebender Wurzeln.
Inali stand nahe der Mitte, eine Statue verwitterter Ausdauer, ihr Blick mit einer Stille auf Laila gerichtet, die keine Feindseligkeit trug, nur eine unergründliche Tiefe. Diese müden Augen, scharf wie Feuerstein, boten keinen Gruß, keine Herausforderung. Sie beobachtete einfach, ihre Präsenz eine leise Kraft, die im Einklang mit der Stille zu summen schien.
Lailas Atem stockte, ihre Hände zitterten, als sie das Tagebuch ihrer Großmutter aus ihrem Rucksack zog. Das abgenutzte Leder knarzte, als sie es öffnete, die Seiten vergilbt und brüchig unter ihren bebenden Fingern. Sie wusste nicht, warum sie danach griff – vielleicht aus Instinkt oder dem Bedürfnis, sich gegen das erdrückende Gewicht des Raumes zu verankern. Doch als ihre Augen über die vertraute Handschrift von Zaubern und geflüstertem Wissen glitten, durchlief eine Veränderung die Luft.
Inalis Blick flackerte, ein Riss in ihrer stoischen Maske. Erkenntnis flammte dort auf, roh und gezackt, überschattet von einem Schimmer Schmerz, so tief, dass er neue Falten in ihr Gesicht zu schneiden schien. Keine Worte durchbrachen die Stille, doch etwas ging zwischen ihnen vor – ein Zittern im Raum, ungreifbar, aber unbestreitbar. Es war, als hätte sich ein Faden, lange ruhend, straff gezogen, sie über den aschebestreuten Boden verbindend, sie an ein gemeinsames, unausgesprochenes Gewicht bindend.
* * *
Laila folgte Inali durch einen engen Gang, der in den Fels geschnitten war, die Luft wurde mit jedem Schritt schärfer, bis sie ihre Haut wie Eissplitter stach. Die Tunnelwände, glitschig vor Feuchtigkeit, schienen schwach zu pulsieren, als ob der Stein einen Herzschlag hielte, zu langsam für menschliche Ohren. Ihre Schritte hallten wider, ein unzusammenhängender Rhythmus, verschluckt von der erdrückenden Enge, bis sie auf einer Klippe herauskamen. Abendlicht durchdrang den Nebel in gezackten Bändern aus Orange und Grau, warf flüchtigen Schimmer über den Stein unter ihren Füßen – gezackt, rissig, als hätte der Berg selbst sich aus einem uralten Kummer gespalten.
Unten klaffte eine ausgetrocknete Quelle wie eine rohe Narbe in der Erde, ihr Becken zersplittert in Fragmente, die verwitterten Knochen ähnelten. Rippen aus Fels ragten durch den Staub, während Adern von Rissen sich nach außen spannen, durch den ausgedörrten Boden tastend wie die Hände von etwas Längstbegrabenem, das noch immer greift. Doch selbst in dieser Öde zitterte eine einsame blaue Blume nahe dem Klippenrand, ihre zarten Blütenblätter trotzten der Kargheit – ein absurder Funke Leben.
Inali stand reglos, ihre verwitterte Silhouette verschmolz mit der kargen Landschaft, als wäre sie weniger eine Frau und mehr ein Fragment der Klippe selbst. Ihr getrübter Blick war auf die Hülle der Quelle gerichtet, die Augen schwer von etwas Unnennbarem. Als sie sprach, schleppte sich ihre Stimme, rau wie der Stein um sie herum.
„Ozern war hier … vor der Maske. Vor dem Hunger.“
Lailas Atem stockte. Sie trat näher, ihre Stimme kaum über einem Murmeln. „Was hat er verloren?“
Inalis Mund zuckte, ein Hauch von Bitterkeit. „Seinen Namen. Und damit seinen Anker.“
Der Wind drehte sich, eine kalte Liebkosung, die an ihren Umhängen zerrte. Weit unten erstreckte sich der knorrige Wald in Schatten, seine verdrehten Glieder griffen nach dem Himmel wie ruhelose Geister.
„Du kanntest ihn?“, fragte Laila eindringlich und trat näher an sie heran. Ihre Stiefel knirschten auf dem brüchigen Stein.
„Nicht das Wesen, das er heute ist“, krächzte Inali, ihre Stimme gespannt wie eine Bogensehne. „Aber den Jungen, den er tief in sich begraben hat, um das zu werden, was er jetzt ist.“
Sie hob eine knorrige Hand und zeigte auf die zerstörte Quelle. „Dieses Wasser hat einst geheilt. Jetzt trägt es die Erinnerung an Verfall. Manches kann nicht vergeben.“
Lailas Hände ballten sich an ihren Seiten zu Fäusten, ihre Knöchel traten weiß hervor. Sie schwieg, doch in ihr brodelte etwas – vielleicht Mitleid oder ein eisiger Hauch von Angst. Vielleicht beides.
„Warum hast du mich hierhergebracht?“, durchschnitt ihre Stimme sanft, aber bestimmt das leise Heulen des Windes.
Inalis Flüstern klang schwer, belastet von altem Schmerz. „Weil ich geschwiegen habe, als ich hätte schreien müssen. Und dieses Schweigen hat ihn wachsen lassen.“
Sie drehte sich nun ganz zu Laila um, ihr Gesicht eine verwitterte Landkarte des Bedauerns, gezeichnet von tiefen Falten der Zeit. „Willst du ihn bekämpfen? Dann trage nicht mein Schweigen mit dir.“
Ein Herzschlag verstrich. Am Rand der Klippe zitterte die blaue Blume erneut im Wind, als würde sie still zustimmen.
* * *
Sie stiegen hinab. Jeder Schritt auf dem gewundenen Pfad wurde enger, als würde sich die Erde um sie schließen. Der Durchgang verengte sich, Wurzeln durchzogen den Stein wie Adern und pulsierten schwach in einem vergessenen Rhythmus. Die Luft wurde schwer – feucht, uralt, erfüllt von einer summenden Kraft, die seit Generationen keinen Namen mehr hatte.
Inalis Kerze warf einen flackernden Lichtkreis um sie, zu schwach, um die Dunkelheit gänzlich zu vertreiben. Schatten hafteten an den Wänden wie lauernde Geister und zuckten, als sie vorbeigingen.
Die Kammer, die sie betraten, fühlte sich an wie ein Geheimnis, das der Wald zu vergessen versucht hatte. Wurzeln bildeten eine gewölbte Decke über ihnen, so dicht verwoben, dass sie zu atmen schienen. Moos bedeckte den Boden, glitschig und in Flecken leuchtend. Die Luft war warm und feucht – wie ein Atemhauch.
Inali trat ehrfürchtig an eine Vertiefung im Stein. Sie griff hinein, ihre Finger verschwanden im Geflecht der Wurzeln, und zog etwas Kleines, Zartes hervor: eine Rune. Gedrehte Ranken, grobe Wolle und etwas Älteres waren darin verwoben – vielleicht Haare oder Sehnen.
„Das ist keine Waffe“, krächzte sie, ihre Stimme durchbrach kaum die Stille. „Es ist eine Resonanz.“
Laila trat langsam näher, ihre Hand zitterte, als sie danach griff. In dem Augenblick, als ihre Finger die Rune berührten, pulsierte sie – nicht nur in ihrer Hand, sondern tief in ihrer Brust, in ihrem Rücken, irgendwo in ihrem Innersten. Kein Schmerz. Kein Trost. Eine Erkenntnis.
Ein Blitz flammte hinter ihren Augen auf: ein Wald, der in blauem Feuer brannte, jemand, der ihren Namen rief – aber nicht „Laila“.
Sie taumelte einen Schritt zurück.
„Was – was war das?“, brach ihre Stimme, scharf in der schweren Luft.
„Erinnerung“, knarrte Inali, ihr Ton unnachgiebig. „Aber nicht nur deine.“
Das Gesicht der älteren Frau spannte sich, ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen misstrauischer Prüfung, ihr Mund wurde zu einer dünnen Linie.
„Du hast es gespürt?“
„Ja.“
„Dann bist du bereits zu nah.“
Inali trat näher, ihre Finger schwebten über der Rune in Lailas Hand, ohne sie ganz zu berühren.
„Wenn du zu früh daran ziehst“, flüsterte sie, ihr Atem ein Zischen, „wird der Wald in sich zusammenstürzen. Wurzeln werden sich gegen Wurzeln wenden. Blut wird Blut fordern.“
Lailas Stimme erhob sich kaum über das Pochen in ihren Ohren. „Womit ist es verbunden?“
„Mit ihm. Mit dir. Mit dem, was ihr beide wart – bevor Namen gegeben wurden.“
Stille breitete sich über den Raum aus wie Moos.
„Ich habe gesehen, was passiert“, fügte Inali leiser hinzu, fast wie ein Geständnis. „Wenn wir Erwachen mit Bereitschaft verwechseln.“
Ihre Hand fiel herab. Ihre Schultern sackten zusammen.
„Dieses Versagen habe ich getragen. Nun trägst du sein Echo.“
Laila blickte auf die Rune hinab, die noch schwach in ihrer Handfläche glühte. Es fühlte sich an, als halte sie einen Herzschlag.
Oder einen Fluch.