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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Rückkehr nach Willow Creek


Rae Calloway

Sie hatte sich geschworen, niemals zurückzukehren. Und doch war sie hier – auf direktem Weg ins Herz der Bestie.

Die Reifen des Autos flüsterten über die feuchte, kurvige Straße, während der Nebel sich wie ein lebendiges Wesen um das Fahrzeug legte. Rae Calloways Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das Lenkrad, dass ihre Finger schmerzten. Die dichten, immergrünen Bäume säumten die Straße wie stille Wächter, ihre Äste wölbten sich über den Asphalt, als wollten sie ihn in einer fast zärtlichen Umarmung schützen, und raubten das wenige Licht, das der Nachmittag noch zu bieten hatte.

Selbst bei geschlossenen Fenstern drang der Geruch von Kiefernnadeln und feuchter Erde ins Innere des Autos – roh, vertraut und doch unwillkommen. Er zerrte an ihrer Brust wie eine schmerzhafte Erinnerung, die ihre Krallen in sie schlug.

Das Radio knisterte leise, überlagert von Rauschen und ohne jede Melodie. Rae nahm es kaum wahr. Ihre Gedanken waren zu laut. Ihr Magen verkrampfte sich, als der Nebel sich gerade genug lichtete, um ein Schild vor ihr sichtbar zu machen. Die verblassten, rissigen Worte darauf lauteten:

Willkommen in Willow Creek.

Ihr Fuß zitterte auf dem Gaspedal.

Sie könnte noch umdrehen. Doch der Sog war stärker als die Angst – ein altes Gefühl, von dem sie geglaubt hatte, es längst begraben zu haben. Ein Instinkt, der nicht nur von Gefahr flüsterte, sondern auch von Zugehörigkeit. Etwas wartete in Willow Creek auf sie. Und es war nicht nur die Vergangenheit.

„Mama, glaubst du, es gibt hier Eulen?“, ertönte eine helle, neugierige Stimme vom Rücksitz.

Rae warf einen Blick in den Rückspiegel. Lilas goldgrüne Augen funkelten, während sie ihre Nase ans Fenster drückte, voller Staunen. Ihre wilden, kastanienbraunen Locken bildeten einen zerzausten Heiligenschein, und ihre Arme umschlangen schützend ihren abgenutzten Stoffhasen.

„Oder vielleicht Rehe! Ich wette, es gibt Rehe. Oder Eichhörnchen! Ich liebe Eichhörnchen!“

„Wahrscheinlich all das“, antwortete Rae und zwang sich zu einem ruhigen Ton. „Das da draußen ist ihre Welt – Füchse, Eulen, allerlei Beobachter.“

Lila quietschte vor Freude. „Toll! Glaubst du, wir sehen sie bald?“

„Vielleicht“, sagte Rae, während sich ihre Lippen zu einem spröden Lächeln verzogen. „Dieser Ort lebt, Lila. Das hat er immer getan.“

Es war keine Lüge. Die Wälder rund um Willow Creek hatten sich stets lebendig angefühlt. Aber nicht auf die Art, von der Kinder träumen. Sie flüsterten. Sie beobachteten. Und Rae spürte es jetzt mehr denn je – ein uraltes Bewusstsein, das sich wie ein kalter Atemhauch in ihrem Nacken gegen ihre Haut drückte.

Lilas Geplapper floss weiter und malte eine Welt voller Füchse, Eulen und Waldzauber. Rae antwortete zerstreut, während ihre Gedanken sich rückwärts klammerten. Zu ihm. Zu Kael.

Die Art, wie seine Augen in der Dunkelheit golden aufgeflammt waren. Das Blut an seinen Händen – nicht seines, aber das hatte keine Rolle gespielt. Der Klang ihres Namens, als er ihr nachrief, rau und gebrochen. Sie hatte geschworen, nie zurückzukehren. Und dennoch war sie hier. Für Lila. Weil die Gaben ihrer Tochter sich zeigten und nicht ignoriert werden konnten. Weil sie Schutz brauchte, den Rae nicht sicher war, geben zu können – aber geben musste.

Die Bäume lichteten sich. Der Nebel öffnete sich gerade lange genug, um einen Blick auf die Stadt zu gewähren.

Willow Creek wirkte, als wäre die Zeit stehen geblieben. Holzhäuser kauerten zusammen wie alte Männer, Moos kroch über die Dächer, die Fenster waren beschlagen und blind. Die schmalen Straßen schlängelten sich wie Adern zwischen ihnen hindurch und verschwanden in Hügeln, die von Schatten verhüllt waren.

Rae bog auf den Schotterweg ab, der zum Häuschen ihrer Großmutter führte. Lila war still geworden, ihre Augen weit geöffnet vor Staunen über die Welt draußen.

Das Auto hielt vor dem alten Haus. Efeu umhüllte den schiefen Rahmen wie eine zweite Haut. Die Veranda war mit Kiefernnadeln und gefallenem Laub bedeckt. Das Gebäude neigte sich, aber es war noch nicht zusammengebrochen. Noch nicht.

„Das ist es“, murmelte Rae.

„Es ist so schön!“, rief Lila, sich nach vorne lehnend, ihr Gesicht strahlend vor Begeisterung.

Schön war nicht das Wort, das Rae gewählt hätte. Das Häuschen wirkte… beansprucht. Als hätte der Wald es umschlungen und „mein“ gesagt.

Rae stieg aus, die Luft kühl und scharf auf ihrer Haut. Der Geruch von Erde und Regen füllte ihre Lungen. Lila purzelte hinterher, wirbelte herum, den Stoffhasen in der Hand.

„Darf ich reingehen?“, fragte Lila atemlos vor Aufregung.

Rae nickte, ihre Kehle eng. „Geh nur.“

Sie stiegen die knarrenden Stufen der Veranda hinauf. Rae schob den Messingschlüssel ins Schloss, einen, den sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr berührt hatte. Die Tür ächzte auf und atmete den Duft von Lavendel und Zeder aus – Geisterdüfte ihrer Großmutter.

Das Wohnzimmer war klein, aber vertraut. Der steinerne Kamin ragte an einer Wand empor, die Möbel wirkten eingesunken vom Alter, die Regale waren vollgestopft mit Büchern und Gläsern, die sich seit Jahren nicht bewegt hatten. Staub milderte die Kanten von allem.

„Schau, Mama! Da ist ein Kamin! Und Bilder!“, rief Lila und blieb vor einer alten Leinwand stehen, die an die Wand gelehnt war – Raes, aus einem anderen Leben.

„Hast du das gemalt?!“, keuchte Lila.

Rae nickte. „Vor langer Zeit.“

Ihre Augen wanderten zur Küche, wo ihre Großmutter einst Wiegenlieder summte und Kräuter für die halbe Stadt braute. Der Schmerz des Verlusts traf sie plötzlich und scharf.

„Darf ich nach oben gehen?“, fragte Lila, schon auf dem Weg.

„Vorsichtig“, rief Rae ihr nach, doch das Lachen ihrer Tochter tanzte bereits durch den Flur oben.

Rae packte schweigend aus und stellte die Taschen neben die Couch. Die Küche war staubig, aber intakt. In den Schränken befanden sich noch getrocknete Kräuter – Lavendel, Thymian, Salbei. Die Spuren ihrer Großmutter waren überall.

„Es ist nur ein Haus“, flüsterte sie. „Nur ein Haus mitten im Nirgendwo.“

Doch die Lüge zitterte in ihrer Kehle.

An diesem Abend, nach einem ruhigen Abendessen und Lilas Lieblingskartenspiel, brachte Rae sie ins Bett. Das Zimmer enthielt noch Raes alte Bücher, die verblichene Steppdecke, den Schaukelstuhl. Sie strich Lilas Locken glatt, während das Kind gähnte.

„Mama?“, flüsterte Lila.

„Ja, Liebling?“

„Warum sind wir hierher gekommen?“

Rae hielt inne, ihr Herz zog sich zusammen. „Wir brauchten einen Neuanfang. Und dieser Ort… er ist besonders. Er ist sicher.“

Lila musterte sie mit nachdenklichen Augen – zu wissend für ihr Alter. „Okay. Gute Nacht, Mama.“

„Gute Nacht, mein Schatz.“

Sie küsste die Stirn ihrer Tochter, verweilte eine Sekunde zu lange, dann schaltete sie das Licht aus.

Rae trat hinaus auf die Veranda. Die Nacht war tiefer geworden, und Nebel klammerte sich wie Atem an den Boden. Dunkelheit sammelte sich unter den Bäumen, dicht und wissend.

Stille umhüllte sie, die Art von Stille, die einen das Gefühl gibt, beobachtet zu werden.

Ihre Arme verschränkten sich fest. Die Erinnerungen drängten sich heran. Diese Nacht. Dieses Heulen. Kaels Stimme, zerrissen vor Schmerz. Das Blut.

Ein Heulen durchschnitt die Stille – tief und klagend.

Es ließ Rae das Blut in den Adern gefrieren.

Ihr Atem stockte, und sie zog den Schal fester um sich.

„Was habe ich sie da nur hineingezogen?“, flüsterte sie leise vor sich hin.

Keine Antwort drang aus dem Wald. Nur eine bedrückende Stille umgab sie. Doch das Echo des Heulens blieb, wand sich durch den Nebel wie ein düsteres Versprechen.