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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Flüstern im Wald


Lila

Der Morgen war still, nur unterbrochen von der sanften Melodie eines Waldes, der langsam zum Leben erwachte. Vögel riefen einander mit zarten Gesängen zu, während der Wind leise durch die Bäume strich und Geheimnisse flüsterte, die nur die Wildnis verstand. Lilas Augen öffneten sich flatternd in einem Raum, der von blassem, goldenem Licht durchflutet war. Draußen schimmerte Nebel hinter dem Fenster, und Tautropfen klebten am Glas, brachen das Licht in kleine Regenbögen, die über die Wände tanzten.

Doch Lila blieb nicht unter der Decke, die ihre Mutter am Abend zuvor um sie gelegt hatte. Etwas zog an ihrem Herzen – ein sanftes, beharrliches Ziehen, wie der Ruf eines Freundes aus der Ferne. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, ihre nackten Füße tappten über den kühlen Holzboden.

Vorsichtig öffnete sie die Tür, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Frische Luft streifte ihre Wangen, und ihr Atem formte kleine Wölkchen in der Kälte. Vor ihr ragten die Bäume auf, still und wartend – als ob sie ihren Namen kannten. Der Duft von Kiefern und Moos erfüllte ihre Sinne und weckte etwas Tiefes, Warmes in ihr. Sie kicherte leise.

Der Wald schien mit ihr zu atmen.

Angezogen wanderte sie auf die Bäume zu, ihr Pullover rieb an den Rändern ihrer Gummistiefel. Jeder Schritt fühlte sich geführt an – als hätte der Wald auf sie gewartet. Der Boden war feucht vom Tau, und kleine Äste knackten unter ihren Füßen. Ringsum schien die Welt stillzustehen.

Am Rand einer kleinen Lichtung öffneten sich die Bäume. Sonnenlicht fiel in goldenen Streifen durch das Blätterdach und zeichnete Muster auf den moosigen Boden. Lila blinzelte. Dort lag etwas.

Ein Kreis aus glatten Steinen und Federn war mit seltsamer Präzision angeordnet. Jede Feder – braun, schwarz, weiß – schien sorgfältig ausgewählt. Die Steine schimmerten sanft und fingen das Licht auf eine Weise ein, die unnatürlich wirkte.

Sie hockte sich daneben, den Kopf leicht geneigt. Ihre Hand schwebte über einem Stein. Ein Kribbeln breitete sich in ihrer Handfläche aus. Die Luft fühlte sich elektrisch an, als pulsierte der Kreis mit etwas Lebendigem.

Ihre Finger berührten den Stein – und ein Summen erblühte. Es war kein Geräusch, sondern etwas Tieferes. Es wanderte durch ihre Brust, hinauf entlang ihrer Wirbelsäule, und setzte sich in ihren Knochen fest wie ein Ton in vollkommener Harmonie. Die Blätter raschelten lauter. Der Wind hielt inne. Der Moment dehnte sich aus.

Dann ein Geräusch. Lila drehte langsam den Kopf.

Ein Reh stand am Rand der Lichtung. Braun. Regungslos. Seine Augen trugen ein stilles Wissen.

Für einen langen Augenblick sahen sie einander einfach an. Lila spürte, wie ihr Herz langsamer schlug, wie ihr Atem sich dem des Rehs anpasste. Sie konnte es fühlen – seine Präsenz, seine Ruhe, seine Neugier. Und noch etwas: ein leises Verstehen, als wären sie durch einen unsichtbaren Faden verbunden.

In den Augen des Rehs sah sie ihr Spiegelbild.

Und ihre eigenen Augen… flackerten golden.

Sie schnappte nach Luft.

Das Reh zuckte zusammen und floh, verschwand zwischen den Bäumen. Lila stand wie erstarrt, Staunen und Verwirrung prallten in ihrer Brust aufeinander.

„Lila!“

Die Stimme ihrer Mutter durchbrach den Zauber. Lila wirbelte herum. Rae stand auf der Veranda, das Sonnenlicht schimmerte auf ihrem kastanienbraunen Zopf.

„Komme, Mama!“, rief sie und warf einen letzten Blick auf den Kreis.

Sie wollte ihn noch einmal berühren. Bleiben. Doch die Stimme ihrer Mutter zog sie zurück.

Als sie das Haus erreichte, wartete Rae bereits, die Arme verschränkt. Ihr Lächeln war angespannt.

„Was hast du da draußen gemacht?“, fragte sie, ihre Stimme leicht, die Augen scharf.

„Nur ein bisschen erkundet“, antwortete Lila und zuckte mit den Schultern. „Ich habe ein Reh gesehen – es war so nah!“

Raes Haltung versteifte sich für einen Moment, dann öffnete sie die Tür. „Sag mir nächstes Mal Bescheid, bevor du einfach losgehst, ja?“

Lila nickte, obwohl ihre Neugier weiter in ihr brodelte.

Drinnen umhüllte sie der Duft von Kaffee und Toast. Rae bewegte sich mit geübter Leichtigkeit durch die Küche. Lila kletterte auf einen Holzstuhl am Tisch und wippte leicht auf den Zehenspitzen.

Beim Frühstück konnte sie es nicht für sich behalten.

„Da war ein Kreis aus Steinen und Federn“, platzte sie heraus. „Als ich ihn berührt habe, hab ich etwas gespürt. Als würde er summen.“

„Ein Kreis aus Steinen?“, unterbrach Rae und drehte sich zu ihr um, ihre grünen Augen verengten sich.

„Ja. Es war wunderschön. Denkst du, jemand hat ihn gemacht?“

Rae hielt inne, ihr Ausdruck war unergründlich. Dann kam das Lächeln – zu schnell.

„Wahrscheinlich nur Kinder, die gespielt haben. Du weißt, wie Leute Dinge im Wald liegen lassen.“

„Aber es fühlte sich anders an“, beharrte Lila. „Als wäre es –“

„Lila.“ Raes Ton wurde sanfter, doch ihre Stimme trug eine gewisse Endgültigkeit. „Das ist nichts, worüber du dir Gedanken machen musst. Bleib einfach in der Nähe des Hauses, ja?“

Lila biss sich auf die Lippe. Die Wärme in ihrer Brust verblasste.

Sie nickte langsam. Doch ihre Gedanken wirbelten weiter.

Sie wollte ihr von dem Reh erzählen. Dem goldenen Flackern. Dem Gefühl in ihren Händen. Aber etwas in Raes Blick hielt sie davon ab.

Der Rest des Tages verlief ruhig.

Im Garten fühlte sich alles… heller an. Klarer.

Sie hörte Insekten summen, von unglaublich weit entfernt. Sie konnte die Feuchtigkeit der Erde riechen, die Süße der Wildblumen und den scharfen Hauch von Regen – obwohl der Himmel strahlend blau war.

Sie schloss die Augen und wandte sich dem Häuschen zu. Der Duft von Lavendel wehte aus dem offenen Fenster – intensiver, als er hätte sein sollen. Ihr Puls beschleunigte sich.

Später, als sie bei einem Fleckchen Wildblumen nahe dem Bach hockte, streckte sie die Hand aus, als ein Schmetterling vorbeiflog. Ihre Hand bewegte sich schneller, als sie erwartet hatte. Ihre Fingerspitzen streiften seinen Flügel, bevor er in die Luft davonflitzte.

Sie starrte auf ihre eigene Hand. Es hatte sich nicht wie ein Reflex angefühlt. Es hatte sich… präzise angefühlt.

In dieser Nacht deckte Rae sie im Bett zu. Lila betrachtete das Gesicht ihrer Mutter. Da war ein Lächeln – aber auch etwas dahinter. Sorge. Distanz. Angst?

Lila wollte fragen. Wollte ihr alles erzählen.

Aber sie tat es nicht.

„Gute Nacht, Mama“, flüsterte sie.

„Gute Nacht, Liebling.“

Rae küsste ihre Stirn. Sie verweilte einen Moment länger als sonst.

Als das Haus in Stille versank, lag Lila unter der Decke und starrte an die Deckenbalken. Das Echo hallte noch in ihr nach, wie ein Lied, das sie nicht zu Ende gehört hatte. Es war noch da, rollte sich leise in ihr zusammen wie ein geheimes Lied.

Sie wusste nicht, was geschah.

Nur, dass es echt war.

Und mächtig.

Und ihr gehörte.

Fürs Erste würde es ihr Geheimnis bleiben.

Aber nicht für lange.