reader.chapter — Heimkehr unter dem verheißungsvollen Mond
Lea Brandt
Das Mondlicht schien kalt und silbern durch die dichten Äste des Verfluchten Waldes, als Lea Brandt den ersten Schritt in ihre alte Heimat setzte. Die knorrigen Wurzeln der uralten Bäume wirkten wie die Klauen einer uralten Kreatur, die aus dem moosbedeckten Boden griff. Der Wind, der durch die Äste heulte, klang wie ein vielstimmiges Wispern – ein Flüstern der Geister, die diesen Ort angeblich heimsuchten. Jeder Atemzug fühlte sich schwer an, getränkt von der dichten Feuchtigkeit und dem modrigen Geruch nach Erde und Verfall. Es war, als würde der Wald sie erkennen, nach all den Jahren ihrer Abwesenheit. Willkommen heißen – oder warnen.
Lea zog den Ledermantel enger um ihre Schultern, während ihre Stiefel leise auf dem nachgiebigen Boden knirschten. Der vertraute Klang des Waldes durchdrang ihre Sinne: das Knacken trockener Äste, das Rascheln von Blättern, das ferne Heulen eines Wolfes. Ihre Augen, so intensiv grün wie das Laub über ihr, suchten die Schatten ab, wachsam, jede Bewegung beobachtend. Der Wald lebte, pulsierte, beobachtete. Doch die Jahre der Flucht hatten sie zu einer Meisterin des lautlosen Schleichens gemacht. Sie war eins mit der Dunkelheit geworden, ein Schatten unter Schatten.
Ihre Finger glitten flüchtig über die raue, kalte Rinde eines Baumes. Ein Strom von Erinnerungen überflutete sie. Sie war ein Kind gewesen, als sie das letzte Mal durch diese Wälder gelaufen war – ein sorgloses, lachendes Kind. Sie hatte mit ihrem Bruder Verstecken gespielt, während ihre Eltern in der Ferne miteinander sprachen. Das Sonnenlicht, golden und warm, hatte durch die Blätter gefiltert und den Boden in tanzende Lichtflecken getaucht. Jetzt war nichts mehr davon übrig. Keine Wärme, kein Lachen. Nur Dunkelheit und die Schatten der Vergangenheit.
Lea blieb stehen. Ihre Augen schlossen sich für einen Moment, und die stumme Stille des Waldes schien sie zu umfangen. Es war hier, in diesen Wäldern, dass sie zum letzten Mal ihre Familie gesehen hatte. Ihre Mutter, die sie mit zitternden Händen an sich gezogen und ihr ein letztes Mal über das Haar gestrichen hatte. Ihr Vater, dessen Stimme wie ein donnernder Befehl durch die Nacht gehallt war, als die Angreifer kamen. Ihr Bruder, dessen Schreie sie noch immer in ihren Albträumen verfolgten, schrill und voller Angst. Und sie selbst – ein Kind, das fortgerannt war, während hinter ihr alles in Flammen aufging.
Der Wald schien plötzlich enger, die Luft stickiger. Der Gestank von Rauch, Blut und verbranntem Holz schien aus dem Boden aufzusteigen, so real, dass ihr der Atem stockte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, die Nägel gruben sich tief in ihre Handflächen. Sie hatte überlebt. Doch der Preis war zu hoch gewesen. Die Schuld war wie ein Dorn, der sich tief in ihr Herz gebohrt hatte, eine Wunde, die nie verheilen konnte. Sie hatte diesen Schmerz jahrelang in sich eingeschlossen, ihn nie zu spüren gewagt. Doch jetzt – jetzt war sie zurück. Und sie würde sich der Vergangenheit stellen.
Ein Rascheln durchbrach die Stille und riss sie aus ihrer Starre. Lea fuhr herum, ihre Sinne angespannt. Der Adrenalinstoß ließ ihr Herz schneller schlagen, während sie in die Dunkelheit starrte. Doch da war nichts – nur ein Schatten, der sich bewegte, als der Wind die Äste schüttelte. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Die Vergangenheit durfte sie nicht überwältigen. Nicht jetzt. Sie war nicht hier, um zu trauern. Sie war hier, um Antworten zu finden. Antworten – und Rache.
Ihre Schritte wurden sicherer, als sie tiefer in den Wald vordrang. Die Bäume standen hier dichter, ihre knorrigen Äste verschlangen das Mondlicht, und die Schatten wurden dichter, schwerer. Lea wusste, dass sie Tarens Territorium betrat. Seine Herrschaft hatte das Rudel in eine Maschine aus Angst und Kontrolle verwandelt, die jeden Eindringling erbarmungslos verschlang. Doch sie war kein Eindringling. Dieses Land war ihr Geburtsrecht. Die Erde unter ihren Füßen gehörte nicht Taren, sondern den Erinnerungen ihrer Familie – und ihrer eigenen Vergangenheit.
Ein plötzlicher Windstoß brachte einen metallischen Geruch mit sich, der ihr die Kehle zuschnürte. Blut. Lea blieb stehen, ihre Muskeln angespannt. Sie lauschte, doch der Wald war still. Nur das entfernte Knacken eines Astes brach gelegentlich die Stille. Ihre Augen suchten die Schatten ab, jede Faser ihres Körpers bereit, zu kämpfen oder zu fliehen. Doch da war nichts – nur die Präsenz des Waldes, die sie umgab wie ein lebendiges Wesen. Dies war ein Ort, den die Rudelmitglieder fürchteten, ein Ort, den sie mieden. Doch für Lea war er ein Zufluchtsort. Ein Ort der Antworten.
Vor ihr öffnete sich der Wald plötzlich zu einer Lichtung. Das Mondlicht fiel durch die Baumkronen und tauchte den Ort in ein unheimliches, silbernes Licht. Die Luft war schwer und kühl, wie der Atem eines schlafenden Riesen. Lea kniete sich nieder, ihre Finger berührten vorsichtig den Boden. Eine seltsame, leise Stimme, kaum mehr als ein Flüstern in ihren Gedanken, ließ sie innehalten. *Hier... hier ist etwas verborgen.*
Sie zog ein kleines Messer aus ihrem Stiefel und begann, die Moosschicht vorsichtig beiseitezuschieben. Darunter kam ein glatter, kalter Stein zum Vorschein. Ein uraltes Symbol war darauf eingraviert, die Linien verwittert, aber noch erkennbar. Ihr Atem stockte. Es war das Zeichen ihres Rudels – ein Relikt aus einer Zeit, bevor Taren an die Macht gekommen war. Ihre Finger glitten über die Einkerbungen, während ihr Herzschlag in ihren Ohren widerhallte.
Eine Flut von Emotionen überkam sie. Schmerz, so scharf wie das Messer in ihrer Hand, und eine unbezwingbare Entschlossenheit. Dies war mehr als nur ein Symbol. Es war ein Beweis dafür, dass die Vergangenheit nicht völlig ausgelöscht war. Etwas – oder jemand – hatte sie hierhergeführt. Vielleicht der Geist ihrer Mutter, vielleicht ihre eigenen Instinkte. Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie weitersuchen musste.
Plötzlich erklang ein tiefes Heulen in der Ferne. Es war kein gewöhnliches Heulen – es war ein Ruf. Eine Warnung. Leas Herz zog sich zusammen. Sie war nicht allein. Ihre Augen suchten die Schatten, doch sie konnte nichts erkennen. Wie der Wind durch die Lichtung fegte, schien er die Dunkelheit dichter zu weben. Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich, ihr Messer fest umklammert, und verschwand lautlos im Unterholz.
Der Wald war still, doch eine prickelnde Spannung lag in der Luft. Lea wusste, dass sie beobachtet wurde, spürte die Augen, die sie aus den Schatten verfolgten. Doch diesmal würde sie nicht davonlaufen. Diesmal war sie bereit.
Tiefer und tiefer tauchte sie in die Dunkelheit des Waldes ein. Der verheißungsvolle Mond über ihr war ihr Zeuge. Sie war zurückgekehrt – und nichts würde sie aufhalten. Nicht jetzt, wo die Wahrheit so nah war.