reader.chapter — Flüstern des Waldes
Lea Brandt
Die Schatten des Verfluchten Waldes umarmten Lea wie eine zweite Haut, während sie tiefer in die Dunkelheit eindrang. Der Nebel kroch ihr kühl über die Knöchel, wand sich wie eine lebendige Schlange um die knorrigen Stämme und machte den Boden unsichtbar. Es war, als würde der Wald seine Geheimnisse unter dichten Schleiern verbergen, bereit, sie nur jenen zu offenbaren, die mutig – oder töricht – genug waren, danach zu suchen. Doch Lea war weder töricht noch unvorbereitet. Sie war eine Jägerin. Und dieser Wald war nicht länger ihr Feind, sondern ein Verbündeter, der sie mit jeder Wurzel, jedem Ast herauszufordern schien.
Ihre Schritte waren lautlos, nur das leise Rascheln von feuchtem Moos unter ihren Stiefeln verriet ihre Bewegung. Die Luft roch nach Erde, Holz und etwas Metallischem – ein Geruch, der Erinnerungen weckte, die sie lieber begraben hätte. Die Lichtung und das alte Symbol ihres Rudels brannten noch in ihrem Geist, ein unruhiges Feuer, das sich nicht löschen ließ. Sie hatte geglaubt, die Verbindung zu ihrer Vergangenheit verloren zu haben, doch der Stein hatte sie daran erinnert, dass sie immer noch ein Teil dieser Welt war – ob sie es wollte oder nicht.
Ein Laut durchbrach die Stille. Ein Knacken, irgendwo in der Ferne. Lea hielt inne, ihre Muskeln angespannt wie die Sehne eines Bogens. Ihre Augen huschten durch die Schatten, suchten nach dem Ursprung des Geräuschs. Die Dunkelheit um sie herum wirkte dichter, fast greifbar. Ein Tier vielleicht? Oder jemand, der sie verfolgte? Sie wusste nicht, wer oder was dort draußen war, aber sie spürte, dass sie beobachtet wurde.
Der Wind trug ein leises, beinahe melodisches Flüstern heran. Es war kein menschliches Flüstern, doch es trug eine seltsame Intelligenz in sich, ein Wispern, das in ihre Knochen kroch. Der Wald sprach. Lea schloss die Augen, ließ den Wind über ihre Haut streichen, während sie versuchte, seine Botschaft zu entschlüsseln. Sie wusste, dass sie nicht zufällig hier war – nicht an diesem Ort, nicht in dieser Nacht.
Die Erinnerungen kehrten zurück, unerbittlich wie die Flut. Sie war wieder ein kleines Mädchen, versteckt hinter einem Stapel Holz nahe der Lichtung. Der Rauch brannte in ihren Augen, ihre Lungen kämpften um jeden Atemzug. Die Schreie ihrer Mutter hallten in ihren Ohren, so scharf wie die Klinge, die das Leben auslöschen konnte. Silhouetten im Feuerlicht, ihr Vater, dessen Gesicht vor Entschlossenheit zu einer Maske geworden war. Und dann der Moment, in dem alles zerbrach – als die Angreifer durchbrachen, das Kreischen von Metall auf Metall, das Aufblitzen einer Klinge.
Lea riss die Augen auf. Ihre Hände zitterten, und sie presste sie zu Fäusten, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, den Schmerz und die Schuldgefühle, die sie wie eine eiserne Kette umschlossen, in die Tiefe ihres Geistes zu verbannen. Sie konnte sich keine Schwäche erlauben. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht, wenn die Vergangenheit so erbarmungslos an ihr riss.
Ein Ast knackte über ihr. Sofort griff sie nach dem Messer an ihrer Hüfte, ihre Finger schlossen sich fest um den Griff. Ihr Blick durchkämmte die Dunkelheit, suchte nach einer Bewegung, einem Schatten, der nicht dorthin passte. Doch der Wald blieb still. Der Wind hatte sich gelegt, und in der Stille schien jede Sekunde eine Ewigkeit zu dauern.
Der Boden unter ihr wirkte plötzlich lebendig, und ihr Blick fiel auf eine Spur im feuchten Moos. Die Umrisse einer Tatze – groß und schwer, mit tiefen Abdrucken, die die feuchte Erde eingedrückt hatten. Sie kniete sich hin, ihre Finger glitten über die Spur, während sie sie prüfte. Das Gewicht, die Tiefe – das war kein gewöhnlicher Wolf. Es war jemand aus dem Rudel. Eine Welle von Anspannung durchlief sie, als ihre Gedanken sich überschlugen. Hatten sie sie bereits bemerkt? Oder war dies etwas anderes, ein Schatten aus der Vergangenheit, der sie nicht losließ?
„Was willst du mir sagen?“ flüsterte sie leise und musterte die Spur, als könnte sie ihr Antworten entlocken.
Plötzlich raschelte es in der Nähe, gefolgt von einem dumpfen Tappen. Das Geräusch war dicht, viel zu nah, und Leas Haut prickelte vor Anspannung. Sie richtete sich auf, das Messer fest in der Hand, ihre Sinne geschärft bis zur Grenze des Erträglichen. Das Flüstern des Waldes war verstummt, und die Stille war nunmehr eine drückende Last.
Sie wich langsam zurück, ließ die Schatten sie verschlucken. Der Wald schien zu reagieren, öffnete Wege, wo vorher keine waren, und verschloss andere mit dichten Zweigen. Es war ein Tanz aus Instinkt und Strategie, den Lea mit einer Präzision ausführte, die nur aus jahrelangem Überleben geboren werden konnte.
Nach einer Weile ließ das Tappen hinter ihr nach, doch sie blieb wachsam. Der Wald war gefährlich, selbst für jemanden wie sie. Jeder Baum, jeder Schatten konnte einen Feind verbergen.
Schließlich erreichte sie eine kleine Senke, verborgen zwischen eng stehenden Bäumen. Der Boden war hier weicher, bedeckt mit einer dichten Schicht aus Moos, das bei jedem Schritt leicht nachgab. Sie kniete sich hin, ließ ihren Körper zur Ruhe kommen, während ihre Gedanken weiterarbeiteten.
Ihre Hände wanderten zu ihrer Tasche, zogen ein kleines Stück Stoff hervor. Es war alt, die Farben verblasst, doch das Muster war noch immer erkennbar. Das Haarband ihrer Mutter. Das einzige, was sie aus jener Nacht hatte retten können. Ihre Finger glitten über das Material, während eine Welle von Trauer und Wut durch sie hindurchspülte. Es war ein Relikt, ein Symbol, das sie antrieb und zugleich schmerzte.
„Ich werde sie finden“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein rauer Atemzug. „Ich schwöre es.“
Der Wind setzte wieder ein, trug ihr Flüstern mit sich, als ob der Wald ihr Versprechen gehört hätte. Lea ließ das Haarband zurück in die Tasche gleiten und erhob sich. Der Mond über ihr schien heller zu leuchten, ein stiller Zeuge ihres Schwurs.
Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick durch die Senke wandern, bevor sie sich in Bewegung setzte. Der Wald würde seine Geheimnisse nicht freiwillig preisgeben, doch Lea hatte nicht vor, ihn zu bitten. Sie würde jede Antwort erzwingen, die sie brauchte.
Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde die Dunkelheit dichter, die Schatten tiefer. Doch Lea fühlte sich nicht mehr verloren. Der Schmerz war ihr Anker, die Rache ihre Flamme. Der Mond über ihr war ein kühles, leuchtendes Versprechen in der kalten Nacht. Sie würde die Wahrheit finden. Und nichts würde sie aufhalten.