reader.chapter — Die Schatten der Vergangenheit
Lea Brandt
Die Dunkelheit des Verfluchten Waldes war fast absolut, nur gelegentlich erhellte ein fahles Mondlicht die Szenerie durch die dichten Baumkronen. Ein leiser Wind strich über die Blätter und ließ die Äste wie knorrige Finger miteinander flüstern. Lea bewegte sich langsam, ihre Schritte bedacht, ihr Atem flach. Die Luft war kühler geworden, fast frostig, und mit jeder Bewegung schien sich die Dunkelheit dichter um sie zu legen, wie ein schweres Tuch, das jede Möglichkeit von Flucht erstickte.
Ihre Finger strichen unbewusst über das Haarband ihrer Mutter, das sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. Das weiche, vergilbte Tuch war das einzige, was sie von dieser Nacht übrig behalten hatte. Ein Relikt, das wie ein stummer Zeuge die Last ihrer Vergangenheit trug. Sie hielt es fest, als könnte es ihr Kraft geben, und spürte die vertraite Welle von Trauer und Entschlossenheit, die ihr Herz zusammenzog.
Die Erinnerungen kamen plötzlich, ohne Vorwarnung, wie ein Messer, das durch die Nacht schoss.
Sie war wieder ein Kind. Die Welt um sie herum brannte, in flammendem Rot und Gold, ein Inferno, das den Himmel selbst zu verzehren schien. Der Geruch von Rauch und Blut klebte an ihrer Haut, drang in ihre Lungen, und sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Beine weigerten sich, sie weiter zu tragen, obwohl sie wusste, dass sie fliehen musste.
„Lea!“ Der Ruf ihrer Mutter, so scharf und verzweifelt, als könnte ihre Stimme allein das Chaos um sie herum bezwingen.
Lea rannte. Sie wusste nicht, wohin sie lief, der Wald war damals noch ihr Zuhause gewesen, aber jetzt war er ein Labyrinth aus Schatten und Gefahr geworden. Flammen leckten an den Bäumen, und hinter ihr heulten die Angreifer. Ihre Schreie mischten sich mit den Lauten der Kämpfenden, einem unendlichen Crescendo aus Gewalt.
Die Szene wechselte. Sie war plötzlich wieder auf der Lichtung, versteckt hinter dem Stapel Holz, während sie durch die schmalen Ritzen zwischen den Stämmen blickte. Flackerndes Licht warf groteske Schatten auf die Gesichter der Angreifer. Fremde und doch nicht ganz unbekannte Silhouetten bewegten sich in einer Choreografie der Zerstörung.
Ihr Vater stand in der Mitte des Geschehens, eine imposante Figur, die sich den Angreifern entgegenstellte. Seine Bewegungen waren präzise, tödlich, aber auch er schien nicht unverwundbar.
Lea presste eine Hand über ihren Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken. Sie wollte weinen, wollte schreien, aber die Furcht hielt sie stumm. Ihre Mutter tauchte auf, ihre kastanienbraunen Haare im Feuerschein wie Flammenzungen. Sie bewegte sich schnell, mit einer Anmut, die Lea nie vergessen hatte. Doch auch diese Anmut konnte nicht verhindern, was dann geschah.
Ein Schatten trat hervor. Eine Silhouette in der Dunkelheit, die größer wirkte als die anderen, dominanter, und alles an dieser Figur ließ Leas Herz in ihrer Brust gefrieren. Die Bewegungen des Schattens waren fließend, fast lautlos, aber voller tödlicher Präzision. Eine Klinge blitzte auf, und Leas Augen weiteten sich.
„Mama!“ Der Schrei durchbrach die Barriere ihrer Lippen, unkontrolliert und verzweifelt.
Die Gestalt drehte den Kopf, und für einen schrecklichen Moment fixierten diese Augen sie. Grau, kalt, wie der Wintersturm, der alles Leben erstickte.
Lea blinzelte, zurück in die Gegenwart gerissen. Ihr Atem ging stoßweise, und sie griff nach der Rinde des Baumes neben sich, um Halt zu finden. Ihre Finger waren feucht von Schweiß, ihre Handflächen zitterten. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, ihre Umgebung wieder wahrzunehmen. Doch dieses Gefühl des kalten, grauen Blickes, der sie durchbohrte, wollte nicht vergehen.
Das Haarband rutschte durch ihre Finger, und sie hielt es fest, fast zu fest, als wollte sie es zerreißen. Ihre Mutter hätte gewollt, dass sie stark blieb. „Es ist vorbei“, murmelte sie, aber die Worte klangen leer, selbst für sie. Es war nicht vorbei. Es würde nie vorbei sein, solange sie die Wahrheit nicht kannte.
Der Wald hatte sich verändert, aber er war immer noch derselbe Ort, an dem ihre Kindheit geendet hatte. Es war ein Ort voller Schrecken, aber auch voller Antworten. Sie musste weitergehen.
Der Weg vor ihr verlor sich in der Dunkelheit, doch sie straffte ihre Schultern und setzte sich in Bewegung. Der Boden war uneben, mit Wurzeln und steinigen Vorsprüngen gespickt, aber ihre Schritte blieben sicher. Die Erinnerungen nagten noch immer an ihr, und die Gestalt mit den grauen Augen erschien jedes Mal, wenn sie die Augen schloss. Doch sie würde sich davon nicht aufhalten lassen.
Nach einer Weile bemerkte sie eine Veränderung in der Luft. Sie war schwerer, fast drückend, wie die Vorahnung eines Sturms. Lea blieb stehen und lauschte. Stille. Zu viel Stille. Der Wind hatte aufgehört, und selbst die Bäume, die normalerweise bei jeder Bewegung des Waldes knarrten, waren stumm.
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ sie herumfahren. Doch da war nichts. Nichts außer Schatten.
„Ich weiß, dass du da bist“, sagte sie leise, ihre Stimme schneidend in der Stille. Eine Erinnerung drang in ihr Bewusstsein: Wie oft hatte sie sich damals gewünscht, dass jemand auftauchte, der sie rettete? Doch jetzt war sie nicht mehr das verängstigte Mädchen von damals. Sie war anders. Stärker.
Die Luft fühlte sich kälter an, und Leas Finger umklammerten den Griff ihres Messers. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde, und die Frage war, ob sie es wagen würden, sich ihr zu zeigen.
„Komm schon“, flüsterte sie und zwang ihre Stimme zu einer Härte, die sie selbst überraschte. „Ich bin nicht mehr das Mädchen, das wegläuft.“
Die Stille brach schließlich, aber nicht durch Worte. Ein Heulen durchdrang die Nacht, tief und durchdringend, ein Laut, der die Haare an ihrem Nacken aufrichten ließ. Es war nah. Zu nah.
Lea wich instinktiv einige Schritte zurück und hob ihr Messer. Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab, während sie ihre Haltung beibehielt. Wenn dies ein Angriff war, würde sie nicht unvorbereitet sein.
Sie hörte das leise Tappen von Pfoten auf dem moosigen Boden, ein Rhythmus, der zu schnell war, um nur einem Tier zu gehören. Lea spannte ihre Muskeln an, während sich ihre Sinne schärften.
Und dann trat aus der Dunkelheit eine Gestalt hervor. Groß, massiv, aber nicht vollständig in menschlicher oder tierischer Form. Der Wolfsmensch vor ihr war eine Erinnerung an das, was sie gejagt hatte – und was sie einst war.
Die grauen Augen der Gestalt fixierten sie, und der Atem stockte ihr. Ein leises Knurren durchbrach die Nacht, und die Spannung zwischen ihnen war so dicht, dass sie die Luft schneiden konnte. Doch diesmal war sie bereit.
Lea griff fester nach ihrem Messer, das Mondlicht fiel darauf und ließ die Klinge blitzen. „Wenn du denkst, dass ich Angst habe, hast du dich getäuscht.“
Die Antwort kam in Form eines weiteren tiefen Knurrens, das in ihrer Brust vibrierte. Der Wolfsmensch machte einen Schritt auf sie zu, und für einen Moment zögerte sie, ein Schatten von Zweifel huschte durch ihre Gedanken. Doch sie unterdrückte ihn.
Der Wald hielt den Atem an, während die Vergangenheit und die Gegenwart sich ineinander verflochten.