Kapitel 1 — Der Maskenball des Schicksals
Charlotte
Die Fackeln entlang der Kieswege warfen ein warmes, flackerndes Licht auf die weiten Gärten des Hohenfels-Anwesens. Der Duft von Rosen und das süßliche Aroma von frisch poliertem Holz schwebten durch die abendliche Luft, doch Charlotte von Hohenfels empfand keinen Trost darin. Im Inneren des prachtvollen Ballsaals, wo sich die Adelselite des Landes versammelt hatte, strahlte das Licht der Kristallkronleuchter auf die fein gekleideten Gäste und die vergoldeten Ornamente der Wände. Die Musik eines Streichorchesters erfüllte den Raum, dazu mischte sich das gedämpfte Summen von Gesprächen und das leise Klirren von Gläsern. Charlotte stand in einer der Ecken des Saals, ihre schmalen Finger um den Stiel eines Champagnerglases geschlungen, und versuchte, die Enge in ihrer Brust zu ignorieren.
Das Kleid, das sie trug, war ein Meisterwerk aus Elfenbein und Bordeauxrot, mit zartem Spitzenbesatz, der wie Morgenfrost glitzerte. Das Mieder betonte ihre Taille auf fast schmerzhafte Weise, während der Stoff in seiner Bewegung schimmerte und die Illusion von müheloser Eleganz erweckte. Ihr Haar war in kunstvollen Kaskaden hochgesteckt, mit Perlennadeln gesichert, welche das aschblonde Licht ihrer Strähnen einfingen. Doch trotz all des Prunks fühlte sie sich wie eine Marionette, deren Fäden von einer unsichtbaren Hand geführt wurden.
„Charlotte, meine Liebe, du wirkst so bezaubernd wie eh und je,“ sagte eine sanfte, aber kalkuliert schmeichelnde Stimme neben ihr. Baron Eduard von Falkenstein, ein hochgewachsener Mann mit makellos sitzendem blauem Frack und einem perfekt gebundenen weißen Halstuch, trat an ihre Seite. Sein Lächeln war tadellos, doch seine eisgrauen Augen schienen kalt und unergründlich, wie ein zugefrorener See. Charlotte unterdrückte ein Zittern, als er sich leicht verneigte und ihr seinen Arm bot. „Ich hoffe, ich darf darauf zählen, dass Sie mir später den ersten Tanz gewähren.“
„Natürlich, Baron von Falkenstein,“ antwortete sie, ihre Stimme höflich, aber distanziert. In ihrem Inneren jedoch war jedes Wort von Widerwillen begleitet. Sie wusste, was dieser Tanz bedeutete. Es war mehr als bloße Etikette — es war ein unausgesprochener Schwur, ein Schritt weiter in Richtung Verlobung, und damit ein weiterer Nagel in den Käfig ihrer Freiheit.
„Vorzüglich,“ sagte Falkenstein mit einem zufriedenem Nicken, während sein Blick über den Ballsaal glitt. „Ihr Vater hat eine hervorragende Veranstaltung organisiert. Man kann nicht anders, als den Hohenfels für ihren unfehlbaren Geschmack zu bewundern. Doch ich nehme an, das überrascht Sie nicht.“
Charlotte erwiderte nichts. Stattdessen nippte sie an ihrem Champagner, ihr Blick auf die Menge gerichtet, während sie vorgab, die Gäste zu beobachten. Ihre Gedanken jedoch drifteten ab, suchten verzweifelt nach einem Ausweg. Das heitere Lachen und die höflichen Komplimente um sie herum verschwammen zu einem monotonen, dröhnenden Hintergrundgeräusch. Sie fühlte sich wie eine Schauspielerin in einem Stück, dessen Skript sie niemals gelesen hatte, aber dennoch perfekt beherrschen sollte.
„Charlotte!“ Die vertraute Stimme von Luise von Rosenberg durchbrach die Kakophonie. Ihre Freundin näherte sich in einem Kleid aus tiefgrünem Samt, das ihre dunklen Locken und olivfarbene Haut perfekt betonte. Ihre Augen, in denen stets eine Mischung aus Scharfsinn und Wärme lag, suchten Charlottes Blick, und für einen Moment verspürte sie Erleichterung.
„Baron von Falkenstein,“ sagte Luise höflich, ihre Stimme ruhig, doch ein kaum wahrnehmbarer Unterton von Ironie schwang mit. „Wie reizend, Sie hier zu sehen.“
„Frau von Rosenberg,“ erwiderte Falkenstein mit einer perfekten Verbeugung. „Ein Vergnügen, wie immer.“
Luise schenkte ihm ein höfliches Lächeln, bevor sie sich zu Charlotte wandte. „Liebe Charlotte, könnten Sie mir für einen Moment Gesellschaft leisten? Es gibt etwas, das ich dringend mit Ihnen besprechen muss.“
Falkensteins Blick wanderte kurz zwischen den beiden Frauen hin und her, bevor er sich erneut verneigte. „Aber natürlich. Ich hoffe, ich darf später auf einen Tanz hoffen, gnädige Frau.“
Kaum war er außer Hörweite, legte Luise die Hand an Charlottes Arm und führte sie behutsam in eine ruhigere Ecke. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen,“ bemerkte sie leise, ihre Stimme von Sorge durchzogen.
„Das könnte daran liegen, dass ich tatsächlich davor stehe,“ erwiderte Charlotte trocken, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. „Dieser Abend… es fühlt sich an, als würde ich lebendig begraben.“
Luises Augen suchten den Saal ab, bevor sie sich Charlotte wieder zuwandte. „Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss. Aber du bist stärker, als du denkst. Es gibt immer einen Ausweg, Charlotte. Auch wenn du ihn jetzt noch nicht sehen kannst.“
„Welchen Ausweg, Luise?“ flüsterte Charlotte, ihre Stimme bebend. „Mein Vater hat diesen Abend seit Wochen geplant. Ist das nicht der Beweis, dass ich keine Wahl habe?“
Luises Antwort wurde unterbrochen, als das Klirren eines Glases die Aufmerksamkeit aller Gäste auf sich zog. Charlotte erstarrte, als sie sah, wie ihr Vater, Graf Wilhelm von Hohenfels, in der Mitte des Saals stand. Sein Gesicht war streng, seine Haltung aufrecht und gebieterisch. Die Stille, die folgte, lastete schwer auf Charlottes Schultern.
„Meine Damen und Herren,“ begann der Graf mit dröhnender Stimme, die den Raum erfüllte, „es erfüllt mich mit Stolz, Sie heute Abend bei uns willkommen zu heißen. Dieser Anlass ist mehr als nur ein Fest. Es ist ein Neubeginn für unsere Familie, ein Zeichen der Hoffnung in schwierigen Zeiten. Und deshalb möchte ich Ihnen heute etwas verkünden, das unser aller Zukunft betrifft…“
Charlotte hörte nicht mehr zu. Ihr Atem wurde flach, ihre Hände begannen zu zittern. Jeder Muskel in ihrem Körper schrie nach Flucht. Sie konnte den stählernen Blick ihres Vaters spüren, der sie suchte, und die unausweichliche Bedeutung seiner Worte drang wie ein eisiger Wind zu ihr durch.
„Charlotte?“ Luises Stimme war ein leises Flüstern, doch sie erreichte Charlottes Ohren wie ein Rettungsanker.
„Ich muss hier raus,“ murmelte sie und begann, sich durch die Menge zu bewegen. Ihre Schritte waren eilig, dabei aber darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Stimmen, das Lachen und die Musik verfolgten sie wie ein Schatten, doch endlich erreichte sie die großen Türen, die hinaus in die Gärten führten.
Die kühle Nachtluft traf sie wie ein Schlag, doch sie brachte auch Erleichterung. Charlotte atmete tief ein, ihre Schritte auf dem Kiesweg gedämpft. Die hohen Rosenbüsche und die Schatten der alten Eichen boten ihr Schutz. Das Plätschern eines Brunnens lenkte ihren Blick, und sie hielt erst an, als sie ihn erreichte. Das Wasser glitzerte im Mondlicht wie flüssiges Silber, und für einen Moment schloss sie die Augen, ließ sich von der Stille umhüllen.
„Was tun Sie hier draußen, gnädige Frau?“ Eine tiefe, ruhige Stimme drang aus den Schatten zu ihr. Charlotte fuhr herum, ihre Augen suchten die Dunkelheit, bis sie die Silhouette eines Mannes entdeckte. Er trat hervor, schlank und unauffällig gekleidet, mit einem Mantel, dessen abgenutzter Stoff ihn als Bürgerlichen verriet. Das Mondlicht fiel auf seine Gesichtszüge, und sie sah die Wärme in seinem Lächeln, die Dunkelheit und Nachdenklichkeit in seinen Augen.
„Und wer sind Sie?“ fragte sie, ihre Stimme fest, doch ihr Herz schlug schneller.
„Ein Beobachter,“ antwortete er, eine Spur von Belustigung in seinem Ton. „Oder vielleicht ein Träumer, wenn Sie so wollen.“
„Ein Träumer?“ Sie zog die Brauen zusammen. „Wovon träumen Sie?“
„Von einer Welt, die freier und gerechter ist als diese hier.“ Er machte eine kleine, höfliche Verbeugung. „Mein Name ist Alexander Richter. Und Sie, gnädige Frau? Wovon träumen Sie?“
Charlotte wusste keine Antwort. Doch in diesem Moment, zwischen dem Plätschern des Brunnens und den fernen Klängen des Balls, fühlte sie etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte: Hoffnung.