Kapitel 2 — Ein Flüstern von Freiheit
Charlotte
Die Kühle der Nacht legte sich wie ein beruhigender Schleier um Charlotte, eine sanfte, aber flüchtige Erleichterung von der erdrückenden Enge des Ballsaals. Der leise Plätscher des Brunnens vor ihr schien mit ihrem Atem zu verschmelzen, als sie versuchte, ihre flatternden Gedanken zu ordnen. Doch das Knirschen des Kieses hinter ihr ließ sie erstarren. Eine Stimme, ruhig und doch von einer merkwürdigen Eindringlichkeit, durchbrach die Stille: „Wovon träumen Sie?“
Charlotte wirbelte herum, das Herz wild klopfend, und entdeckte den Mann, der sich als Alexander Richter vorgestellt hatte. Das silberne Mondlicht zeichnete die markanten Kanten seines Gesichts, während seine dunklen Augen im Schatten von einer Wärme durchzogen waren, die sie nicht deuten konnte. Seine Kleidung, schlicht und abgetragen, war ein scharfer Kontrast zu den Prachtgewändern, die sie gewöhnt war.
„Ich…“, begann sie zögerlich, doch ihre Stimme versagte. Eine Flucht schien unmöglich, nicht nur vor seiner Frage, sondern vor den Gefühlen, die sie in ihr auslöste. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Worte kamen leise, fast wie ein Bekenntnis.
Alexander neigte leicht den Kopf, sein Lächeln war unerwartet sanft. „Vielleicht hatten Ihre Träume nie den Raum, sich zu entfalten.“ Sein Blick wanderte zu den Rosenbüschen, die sich im Wind wiegten, ein Bild von Freiheit und Begrenzung zugleich.
Charlotte spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte, während sie nach Fassung rang. Seine Worte trafen sie, gruben sich mit einer unheimlichen Präzision in sie hinein. Sie wollte widersprechen, doch vielmehr fühlte sie sich entblößt, selbst vor einem Fremden. Endlich fand sie ihre Stimme wieder: „Und Sie? Was bringt Sie dazu, sich so freimütig über Käfige zu äußern?“
Er trat einen Schritt näher, jedoch mit einer respektvollen Zurückhaltung, als wollte er sie nicht verschrecken. „Ich habe gelernt, sie zu sehen. Die meisten erkennen ihre Gitterstäbe nicht einmal.“ Seine Stimme war ruhig, doch in seinen Augen brannte etwas. „Ich habe die Ungerechtigkeit dieser Welt nicht mehr ignorieren können. Als Journalist habe ich eine Möglichkeit gefunden, sie sichtbar zu machen – ein Schritt, der mich freier gemacht hat.“
Charlotte betrachtete ihn fasziniert. Sein Mut, die Welt infrage zu stellen, stand im Widerspruch zu allem, was sie gelernt hatte. Doch seine Haltung, seine Worte, sie hatten etwas in ihr berührt, das lange verborgen gewesen war. „Und glauben Sie wirklich, Sie können etwas ändern?“
Ein leises Lächeln huschte über Alexanders Lippen, bevor er antwortete: „Vielleicht nicht die ganze Welt. Aber manchmal reicht es, einen einzigen Menschen ein Stück freier zu machen.“ Sein Blick ruhte auf ihr, und Charlotte spürte ein leises Brennen in ihren Wangen. Niemand hatte sie je so angesehen, als gäbe es in ihr mehr als nur die Rolle, die sie spielte.
„Sie überschätzen mich“, murmelte sie und wandte den Blick ab. „Meine Pflichten sind festgelegt, mein Leben ist vorgegeben. Für Träume bleibt kein Platz.“
„Vielleicht“, entgegnete Alexander leise. „Vielleicht hat man Ihnen eingeredet, dass es keinen Platz gibt.“ Die Sanftheit seiner Worte stand im Gegensatz zur Tiefe ihres Gewichts.
Charlotte öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ihre Gedanken wurden von einem leisen Rascheln in den Büschen unterbrochen. Panik schoss durch sie, als sie in der Ferne die flackernden Lichter der Wachen erkannte, die durch die Gärten patrouillierten. „Sie müssen weg!“ flüsterte sie hastig, ihre Stimme drängend. „Wenn man Sie hier sieht…“
Alexander nickte, sein Gesicht verriet keine Spur von Angst, doch seine Bewegungen wurden hastiger. Er trat in die Schatten der Eichen zurück, bevor er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Ich hoffe, Sie finden den Mut, Ihre Träume zu benennen – und sie zu leben.“ Mit diesen Worten verschwand er, sein Mantel und seine Gestalt verschluckt von der Dunkelheit.
Charlotte blieb zurück, ihr Atem ging schnell, ihr Herz hämmerte wie eine Trommel. Es war, als hätte die Begegnung mit Alexander etwas in ihr aufgerissen, ein Fenster, durch das ein unerwartet kalter, frischer Wind wehte. Doch bevor sie ihre Gedanken ordnen konnte, verstärkten sich die Schritte der Wachen.
„Gnädige Frau? Alles in Ordnung?“ Die Stimme war höflich, doch Charlotte erkannte den Hauch von Misstrauen darin. Sie zwang sich zu einem sanften Lächeln und drehte sich zu den Männern um.
„Ja, ich wollte nur die frische Luft genießen. Der Ballsaal kann so… erdrückend sein.“
Der Wächter nickte, ließ seinen Blick jedoch länger als nötig über die dunklen Bäume schweifen. „Vielleicht wäre es besser, wenn Sie zurück ins Haus gingen. Es wird kühl.“
„Natürlich.“ Charlotte wandte sich zum Gehen, doch ihre Schritte waren schwer, der Kies unter ihren Absätzen schien sie zurückhalten zu wollen. Der Garten fühlte sich plötzlich wie der einzige Ort an, der sicher war, und doch musste sie zurück in die blendende Kälte des Ballsaals.
Als sie die hohen Türen durchschritt, schlug ihr die Hitze der Lichter, der Musik und der Stimmen entgegen. Die beklemmende Pracht und die neugierigen Blicke der Gäste legten sich wie ein Netz auf ihre Schultern. Sie spürte wieder die Last ihrer Rolle, die Blicke, die von ihr erwarteten, die perfekte Tochter, die vollkommen gehorsame Adelige zu sein.
Am Rand des Saals stand Baron von Falkenstein, sein Lächeln so glatt wie Marmor. „Gnädige Frau, darf ich um diesen Tanz bitten?“ Seine Stimme war höflich, doch der Unterton ließ keinen Raum für Ablehnung.
Charlotte nickte stumm und legte ihre Hand in seine. Sie fügte sich in die höfischen Schritte, doch ihre Gedanken waren woanders – bei den Worten, die Alexander gesprochen hatte. Sie klangen wie ein leises, stetes Echo in ihrem Inneren, das sie nicht mehr loslassen konnte.
Als der Tanz endete, trat Charlotte zu Luise, die sie sorgenvoll musterte. „Was ist passiert?“ fragte ihre Freundin leise. „Du wirkst… verändert.“
Charlotte warf einen letzten Blick über ihre Schulter, hinaus in die Nacht, in die Alexander verschwunden war. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich, ihre Stimme ein Flüstern. „Aber vielleicht… vielleicht beginnt etwas Neues.“