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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Zwischen Pflicht und Verlangen


Charlotte

Der Ballsaal war ein Meer aus Licht und Bewegung, doch für Charlotte fühlte sich alles wie ein ferner, unwirklicher Traum an. Die Gespräche und das Lachen der Gäste brandeten an ihren Ohren vorbei, ohne dass sie ein einziges Wort wirklich wahrnahm. Ihre Gedanken hingen noch immer an der Begegnung im Garten, an Alexanders Stimme, die in ihrem Inneren nachklang wie ein Lied, dessen Melodie sie nicht loslassen konnte.

Der schwere Stoff ihres Kleides schien sie zu erdrücken, die Eleganz, die sie so mühsam zur Schau stellte, fühlte sich wie eine Last an. Der Tanz mit Baron von Falkenstein, den sie über sich hatte ergehen lassen, war nicht mehr als eine Abfolge mechanischer Bewegungen gewesen. Sie hatte mit ihm gesprochen, höflich und ausweichend, doch seine Worte – von Plänen, von Verbindungen, von einer Zukunft, die sie nie gewollt hatte – hatten wie ein Netz aus Ketten um ihre Gedanken gelegen.

Nun stand sie am Rand des Ballsaals, die Hände fest um einen Kelch Champagner geschlossen, den sie nicht trank. Sie spürte Luises Blick auf sich, der besorgt und forschend zugleich war. „Charlotte“, sagte ihre Freundin schließlich, als sie sich zu ihr gesellte. „Du wirkst zerstreut. Was ist los?“

Charlotte wandte ihren Blick ab, während sie eine Antwort suchte, die nicht die ganze Wahrheit verriet. „Ich bin nur müde“, antwortete sie leise, ohne Luise anzusehen.

„Müde? Das glaube ich dir nicht.“ Luises Stimme war sanft, aber bestimmt. Sie stellte ihr Glas ab und nahm Charlottes kalte Hand, ihre Berührung ein stilles Angebot von Verständnis. „Komm, wir gehen an einen ruhigeren Ort.“

Widerstandslos ließ Charlotte sich führen. Sie durchquerten den Saal, vorbei an neugierigen Blicken, und betraten einen kleinen Salon, der nur spärlich beleuchtet war. Der Klang des Balles war hier nur noch ein dumpfes Murmeln. Luise schob die Tür hinter ihnen zu und drehte sich zu Charlotte um.

„Jetzt sprich.“

Charlotte ließ sich auf ein Sofa sinken, ihre Finger glitten über die glatte Oberfläche ihres Kelches. „Ich… ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Vielleicht bei dem, was dich so verändert hat“, sagte Luise und setzte sich neben sie. Sie legte Charlottes Hand in ihre eigene, ihre Augen bohrten sich sanft, aber fordernd in die der Freundin. „Ist es Falkenstein? Dein Vater? Oder… etwas anderes?“

Ein Bild schoss vor Charlottes Augen: Alexanders Gesicht, beleuchtet vom silbernen Licht des Mondes, die Intensität in seinem Blick. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Erinnerung fortscheuchen, doch sie blieb.

„Es ist nichts“, log sie schließlich, fühlte jedoch sofort die Schwere der Unwahrheit in ihren Worten.

„Charlotte“, sagte Luise mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Strenge. „Ich kenne dich besser, als du glaubst. Du bist innerlich aufgewühlt, das sieht man dir an. Und ich glaube nicht, dass es Baron von Falkenstein ist, der dir den Atem raubt. Wer ist es?“

Charlottes Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen. Sie wandte sich ab und kämpfte gegen das Bedürfnis, sich Luise anzuvertrauen, doch ihre Freundin ließ ihr keine Wahl. Sie legte eine Hand auf ihre Schulter, ein Zeichen von Halt und Sicherheit. „Du kannst mir vertrauen“, flüsterte sie.

Die Worte brachen etwas in Charlotte auf. Sie legte das Glas beiseite, ihre Hände zitterten. „Es war jemand im Garten“, begann sie, die Stimme brüchig. „Ein Mann… Ein Fremder.“

Luise zog überrascht die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts und ließ Charlotte weitersprechen.

„Er war anders als alle, die ich kenne. So… aufrichtig. Direkt.“ Ihre Stimme wurde leiser, Tränen liefen über ihre Wangen. „Er sprach von Freiheit, von Träumen. Dinge, die ich nie wirklich… bedacht habe. Und doch fühlte es sich an, als hätte er etwas in mir geweckt, das immer da war, aber nie Raum hatte.“

Luise schwieg einen Moment, musterte sie eindringlich. Dann griff sie Charlottes Hände und drückte sie sanft. „Charlotte, ich weiß, was es bedeutet, jemanden zu begegnen, der die Welt auf den Kopf stellt. Aber du musst ehrlich zu dir selbst sein. Was fühlst du? Was willst du wirklich?“

Die Frage traf Charlotte unvorbereitet. Was wollte sie tun? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass die Begegnung mit Alexander eine Leere gefüllt hatte, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte.

Doch bevor sie antworten konnte, wurde die Tür mit einem schwungvollen Geräusch geöffnet. Baron von Falkenstein trat ein, sein Blick unverkennbar auf Charlotte gerichtet. Sein Lächeln war höflich, doch seine Augen waren kalt wie der Winternachtshimmel.

„Ah, da sind Sie ja, gnädige Frau“, sagte er mit einer Stimme, die vor Freundlichkeit triefte – einer Freundlichkeit, die Charlotte fast als Spott empfand. „Ich habe Sie überall gesucht. Ihr Vater würde sich freuen, wenn Sie sich ihm für einen Moment anschließen würden.“

Charlotte stand hastig auf, ihre Hände zitterten. „Natürlich.“

Falkenstein trat zur Seite, ließ sie jedoch nicht passieren, ohne eine seiner Hände leicht auf ihre Schulter zu legen. „Es würde mich sehr freuen, einen weiteren Tanz mit Ihnen zu teilen, mein Fräulein“, sagte er mit einem Hauch von Nachdruck.

„Vielleicht später“, antwortete Charlotte, bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten.

Sein Blick blieb einen Moment länger auf ihr haften, als angenehm war, doch dann trat er zurück und ließ sie ziehen. Sie spürte Luises Augen auf ihrem Rücken, als sie den Salon verließ und zurück in die blendende Welt des Ballsaals trat.

Ihr Vater wartete bereits am Fuß der großen Treppe, seine Haltung steif, sein Gesicht steinern. Neben ihm stand ein Mann, dessen Anwesenheit sie beinahe zum Stolpern brachte. Alexander.

Er trug einen dunklen Anzug, der ihm etwas von der Eleganz und Erhabenheit der adligen Gäste verlieh, doch seine Haltung war aufrecht, sein Blick furchtlos. Charlotte spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Was tat er hier?

„Charlotte“, sagte ihr Vater, und seine Stimme war schneidend. „Herr Richter ist ein Vertreter der Stadtpresse und wird uns über die jüngsten Entwicklungen berichten. Ich dachte, es wäre angemessen, ihn in unsere Gesellschaft einzuführen.“

Seine Worte klangen wie blanker Hohn. Die Presse im Ballsaal der Hohenfels? Niemals war dies zuvor vorgekommen. Und doch war Alexander hier, die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich ziehend, als wäre er ein Raubtier, das unbemerkt in eine Herde Schafe eingedrungen war.

„Wie… nett“, brachte Charlotte hervor und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich hoffe, ich bin keine Störung“, sagte Alexander höflich, doch in seinem Ton schwang etwas mit, das Charlotte nicht deuten konnte.

„Natürlich nicht“, antwortete ihr Vater und lächelte gezwungen. „Kommen Sie, Charlotte, ich bin sicher, Herr Richter wird Ihnen gerne von seinen… Abenteuern berichten.“

Mit einem unauffälligen Nicken deutete ihr Vater an, dass sie sich Alexander anschließen sollte. Charlotte zwang sich, sich zu bewegen, obwohl ihr Herz in ihrer Brust hämmerte.

„Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein von Hohenfels“, sagte Alexander, als sie vor ihm stand. Seine Stimme war ruhig, doch seine Augen erzählten eine ganz andere Geschichte.

„Die Ehre ist ganz meinerseits“, antwortete Charlotte, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Ihr Vater beobachtete sie aus der Ferne, und Charlotte spürte die Last seines Blicks wie ein körperliches Gewicht auf ihren Schultern.

„Darf ich Ihnen einen Tanz anbieten?“ fragte Alexander und hielt ihr die Hand hin.

Es war ein Schritt jenseits aller Konventionen, doch ehe sie darüber nachdenken konnte, legte Charlotte ihre Hand in seine. „Ja.“

Sie bewegten sich zur Mitte des Ballsaals, wo die Musik wieder einsetzte. Alexanders Hand war warm, seine Berührung seltsam beruhigend. Während sie tanzten, flüsterte er leise: „Man hat mich eingeladen, um zu sehen, wie weit ich gehen kann. Aber ich bin nur wegen Ihnen hier.“

Charlotte hielt den Atem an. Ihr Blick suchte den seinen, doch sie fand keine Antworten – nur Fragen, die ihre Welt ins Wanken brachten.

„Warum?“ fragte sie schließlich, ihre Stimme kaum hörbar.

„Weil Sie etwas verdienen, das niemand Ihnen jemals gegeben hat. Eine Wahl.“

Die Musik endete, und mit ihr der Moment, den sie nie vergessen würde.