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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Echo der Vergangenheit


Marlene Weiss

Die Morgensonne kämpfte sich nur mühsam durch den diesigen Himmel, während Hamburg sich langsam in Bewegung setzte. Marlene saß an ihrem Schreibtisch, die Hände auf eine unberührte Skizze gelegt, während ihr Blick über die weiten Fensterfronten ihres Büros wanderte. Die übliche Geschäftigkeit der Stadt, das monotone Summen der Kaffeemaschine und das leise Tippen von Tastaturen in der Ferne schienen ihr heute besonders fremd. Die Melodie von David Lorenz’ Stück „Verlorene Spiegel“ hatte sich in ihr festgesetzt, wie ein Echo, das nicht abklingen wollte.

Sie rieb sich kurz die Schläfen und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf die Pläne vor ihr zu richten. Das neue Projekt, das sie leiten sollte, war ein Triumph – ein weiteres Meisterwerk für die Stadt, das ihre Position als Chefarchitektin weiter festigen würde. Doch ihre gewohnte Begeisterung für Details und Struktur versagte heute völlig. Die Linien auf dem Papier wirkten kalt, leblos. Jeder Versuch, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, scheiterte.

„Alles in Ordnung, Frau Weiss?“ Die Stimme ihrer Assistentin, Lena, ließ Marlene zusammenfahren. Die junge Frau stand in der Tür, ein sorgenvoller Ausdruck auf ihrem Gesicht.

„Natürlich“, erwiderte Marlene, bemüht, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. „Ich bin nur etwas müde.“

Lena zögerte. „Sie haben in letzter Zeit wirklich viel um die Ohren. Vielleicht sollten Sie sich etwas gönnen. Irgendwas, das nichts mit Arbeit zu tun hat.“ Ihr Ton war vorsichtig, und doch schien hinter den Worten eine aufrichtige Sorge zu liegen.

Marlene nickte reflexartig, obwohl die Bemerkung sie insgeheim traf. Die einfache Möglichkeit, dass es „etwas anderes“ als ihre Arbeit geben könnte, hinterließ eine leichte Unruhe in ihr. „Danke, Lena. Ich komme zurecht“, sagte sie dennoch mit fester Stimme. Lena lächelte unsicher und verschwand aus dem Büro.

Marlene atmete aus und ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken. Sie war immer gut darin gewesen, sich zusammenzureißen, in schwierigen Momenten die Kontrolle zu bewahren. Doch heute fühlte sich diese Kontrolle wie ein zerrissenes Netz an, das kaum mehr hielt. Lena hatte recht – sie hatte in letzter Zeit nur funktioniert. Doch was hätte sie sich sonst gönnen sollen? Was sollte sie anfangen mit einer Leere, der sie keinen Namen geben konnte?

Später, in der Mittagspause, ging sie mechanisch durch die Gänge des Büros, grüßte Kollegen mit einem knappen Lächeln, bis sie schließlich im Fahrstuhl stand, allein mit ihren Gedanken. Die Stadt draußen war ein vertrauter Anblick, doch ein inneres Drängen ließ sie die üblichen Abläufe durchbrechen. Ein flüchtiger Kommentar eines Kollegen über den „robotischen Perfektionismus“ ihres jüngsten Entwurfs hatte sie getroffen, mehr als sie sich eingestand. War das wirklich alles, was ihr Leben ausmachte?

Anstatt in die Kantine zu gehen, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr ziellos durch die Straßen Hamburgs. Der Regen der letzten Tage hatte die Luft gereinigt, und die Stadt leuchtete unter dem schwachen Licht der Wintersonne. Die Speicherstadt zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, mit ihren roten Backsteinfassaden und den Kanälen, die sich wie Adern durch das Viertel zogen. Es war ein Ort, den sie sonst selten aufsuchte, doch heute fühlte sich der Gedanke an Distanz zur gewohnten Routine beruhigend an.

Sie parkte und begann, die schmalen Gassen zu durchstreifen, bis sie ein kleines Café entdeckte – ein Ort, den sie bisher nie wahrgenommen hatte. Der Duft von frischem Kaffee und Gebäck strömte ihr entgegen, und die Wärme des Raumes lud zum Verweilen ein. Sie trat ein, suchte instinktiv einen Platz in der Ecke und bestellte einen Cappuccino.

Während sie wartete, bemerkte sie das leise Murmeln der Gäste. Einige saßen in angeregten Gesprächen, andere vertieften sich in Bücher oder Notizen. Es war ein Ort von stiller, intimer Energie, ein Kontrast zu den sterilen, auf Leistung getrimmten Umgebungen, in denen sie sonst verweilte. Die alten Holztische, die mit leichten Kerben und Kratzern bedeckt waren, erzählten Geschichten von unzähligen Menschen, die hier gesessen hatten. Marlene fühlte sich seltsam erleichtert, als sie den Blick schweifen ließ und das Gefühl hatte, für einen Moment unsichtbar zu sein.

„Entschuldigen Sie?“ Eine warme, ruhige Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Marlene blickte auf und sah eine Frau Mitte fünfzig, mit einem freundlichen Gesicht und grauem Haar, das zu einem lockeren Dutt hochgesteckt war. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen? Sie sehen aus, als könnten Sie etwas gebrauchen.“

Marlene schüttelte den Kopf und lächelte höflich. „Nein, danke. Ich warte nur.“

Die Frau nickte langsam, als ob sie etwas verstand, was Marlene selbst nicht greifen konnte. „Manchmal findet man hier mehr, als man erwartet“, sagte sie leise, bevor sie weiterging. Die Bemerkung blieb Marlene im Gedächtnis, während sie ihren Cappuccino trank. Sie zog ihr Handy hervor und tippte den Namen „David Lorenz“ in die Suchleiste ein. Es gab zahlreiche Einträge – Konzertkritiken, Interviews, Videos von Auftritten. Sie klickte auf den ersten Artikel, der von seiner melancholischen Musik und der Suche nach seiner Herkunft sprach. Ein kurzer Abschnitt zog ihre Aufmerksamkeit besonders auf sich: „Lorenz, adoptiert im Alter von zwei Jahren, schöpft Inspiration aus der Frage nach Identität und Verlust.“

Marlene lehnte sich zurück und versuchte, die Bedeutung dieser Worte zu erfassen. Verlust. Identität. Es war, als ob jedes Wort sie persönlich berührte, als ob es etwas in ihr ansprach, das sie selbst nie richtig definiert hatte. Sie scrollte weiter und stieß auf eine Erwähnung, dass er regelmäßig in einem Café in der Speicherstadt auftrat. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. War es dieses Café? War dies Zufall oder Schicksal?

Plötzlich bemerkte sie am Rand ihres Sichtfeldes eine Bewegung. Ein Mann mit dunklem Haar und einem schlichten Wollmantel betrat den Raum. Er trug eine Gitarre in einer abgenutzten Hülle über der Schulter und wirkte, als gehöre er hierher, ohne sich besonders hervorzutun. Marlene beobachtete, wie er direkt auf die kleine Bühne am Ende des Raumes zuging. Der Mann kam ihr seltsam bekannt vor, und sie spürte, dass ihre Hände zu zittern begannen.

Er grüßte einige Gäste mit einem leichten Nicken, bevor er seine Gitarre auspackte und sich auf einen Hocker setzte. Als er die ersten Akkorde spielte, wurde es im Raum fast vollkommen still. Die Melodie, die er spielte, war schlicht, doch sie trug dieselbe emotionale Tiefe wie die Klavierstücke, die sie bei seinem Konzert gehört hatte.

Marlene konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Jeder Ton schien eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die sie berührte, ohne dass sie sie verstand. Es war, als würde die Musik einen Pfad in ihr legen, der ihr den Weg zu etwas zeigen wollte, das sie lange verloren geglaubt hatte.

Nach wenigen Minuten endete das Lied, und der Raum brach in leisen Applaus aus. David hob den Kopf und lächelte schüchtern, dankte den Gästen mit einem Nicken. Er blickte in den Raum, und für einen Moment schien er Marlenes Blick zu erwidern. Ihr Atem stockte. Etwas in seinen Augen – eine Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke – ließ sie glauben, dass er sie erkannt hatte, obwohl sie wusste, dass das unmöglich war.

Marlene zögerte. Sie wollte ihn ansprechen, doch das Gewicht ihrer eigenen Unsicherheiten hielt sie zurück. Als er begann, das nächste Lied zu spielen, beschloss sie, zu warten. Vielleicht war dies nicht der richtige Moment. Vielleicht brauchte sie mehr Zeit, um zu verstehen, was sie wirklich sagen wollte.

Doch als sie beobachtete, wie David spielte, wusste sie, dass sie zurückkehren würde. Diese Begegnung war kein Ende, sondern ein Anfang. Ein leiser Teil von ihr, der schon lange geschwiegen hatte, begann zu flüstern: Es gibt mehr zu entdecken, mehr als das, was du bisher zu wissen glaubtest.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Marlene, dass sie darauf hören wollte.