Kapitel 2 — Flüstern der Melodie
Marlene Weiss
Der Abend war hereingebrochen, und Hamburg glitzerte unter einem Mantel aus tausend Lichtern. Die Elbphilharmonie ragte majestätisch über dem Hafen auf, ihre geschwungene Glasfassade reflektierte die strahlenden Lichter der Stadt und die sanft dahinfließende Elbe. Marlene stand vor dem beeindruckenden Gebäude, während die kühle Nachtluft ihre Wangen streifte. Neben ihr sprach Niklas in einem freundlichen, aber geschäftsmäßigen Ton mit einem Kollegen, der sie vor dem Eingang begrüßt hatte.
Marlene hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Gedanken waren weit entfernt, wie in letzter Zeit so oft. Ihre Finger umklammerten die kleine Clutch in ihrer Hand, während sie sich zwang, das für solche Abende typische Lächeln aufzusetzen. In ihrem schlichten, aber eleganten schwarzen Kleid fügte sie sich perfekt in die Menge der wohlhabenden Gäste ein, die in die Elbphilharmonie strömten. Doch innerlich fühlte sie sich fehl am Platz, wie eine Schauspielerin in einer Rolle, die sie nie wirklich beherrschen wollte.
„Marlene?“ Niklas’ Stimme holte sie zurück. „Bist du bereit?“
„Natürlich“, antwortete sie, die Maske eines höflichen Lächelns aufsetzend.
Zusammen betraten sie das Foyer, eine beeindruckende Mischung aus moderner Architektur und zeitloser Eleganz. Die hohe Decke schien in den Himmel zu ragen, und die sanft geschwungenen Linien der Treppen und Wände ließen den Raum wie eine lebendige Skulptur wirken. Der Klang von Gesprächen und Gelächter erfüllte die Luft, begleitet vom leisen Klirren von Gläsern.
Niklas zog sie zu einer kleinen Gruppe von Gästen, die sich angeregt über Kunstprojekte und den neuesten Erfolg eines lokalen Bauunternehmens unterhielten. Marlene lächelte und nickte an den richtigen Stellen, doch ihre Aufmerksamkeit wanderte immer wieder durch den Raum. Sie spürte die elegante Kühle des Ortes, die wie ein Spiegel ihrer eigenen Gefühlswelt wirkte – geordnet, distanziert und doch irgendwie unerfüllt.
„… und das Konzert heute wird ein einzigartiges Highlight sein“, sagte eine Frau in einem smaragdgrünen Kleid. „David Lorenz ist ein Ausnahmetalent, ein äußerst sensibler Komponist. Seine Werke... sie haben diese unvergleichliche Tiefe.“
Marlene blickte auf. Der Name sagte ihr nichts, doch etwas an der Beschreibung ließ sie aufhorchen.
„Seine Musik ist faszinierend“, fuhr die Frau fort. „Sie scheint Erinnerungen und Gefühle hervorzurufen, von denen man nicht einmal wusste, dass sie existieren.“
Ein leises Flattern breitete sich in Marlene aus, kaum merklich, aber doch spürbar. Wie ein erster Hauch frischer Luft in einem stickigen Raum. Sie versuchte, sich den Namen zu merken. David Lorenz. Es klang vertraut und fremd zugleich.
Ein anderer Gast, ein älterer Mann mit silbernem Haar, fügte hinzu: „Er hat diese Gabe, das Unausgesprochene auszudrücken. Sie müssen unbedingt darauf achten, wie die Musik sich langsam aufbaut – wie eine Welle, die an den Strand rollt.“
Marlene spürte, wie ihre Neugier wuchs, eine Regung, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Es war, als würde etwas in ihr zum Leben erwachen, das sie nicht beschreiben konnte.
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Die Konzertsaallichter dimmten sich, als die Menschen ihre Plätze einnahmen. Marlene saß neben Niklas in einer der mittleren Reihen, von wo aus sie einen klaren Blick auf die Bühne hatte. Der Saal war atemberaubend, eine perfekte Symbiose aus Akustik und Design, die selbst die leisesten Töne klar und lebendig erscheinen ließ.
Eine junge Frau spielte ein kurzes, einführendes Klavierstück, das höfliches Klatschen hervorrief. Dann wurde der Raum still, als ein Mann auf die Bühne trat – David Lorenz, wie die Moderatorin kurz zuvor angekündigt hatte.
Marlene beobachtete ihn, während er sich zum Flügel setzte. Er wirkte fast scheu, als würde er am liebsten mit der Dunkelheit des Hintergrunds verschmelzen. Doch als seine Finger die Tasten berührten, verwandelte sich die Atmosphäre im Raum vollkommen.
Die ersten Töne waren leise, kaum mehr als ein Flüstern. Ein sanftes, melancholisches Motiv entfaltete sich, das an das Rauschen von Wellen erinnerte, die an einen verwaisten Strand schlagen. Die Melodie wuchs langsam, als ob sie sich selbst suchte, und erreichte dann einen Punkt, an dem sie scharf und schneidend wurde – ein Schrei, eine Frage, ein Flehen.
Marlene saß wie erstarrt. Sie konnte den Blick nicht von David lösen, der sich mit geschlossenen Augen über die Tasten beugte, als ob er mit ihnen sprach. Die Musik umhüllte sie wie eine unsichtbare Kraft, drang durch jede Schicht ihres kontrollierten Äußeren und fand den Weg zu einem Teil von ihr, den sie selbst nicht kannte.
Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihre Brust, als ob sie den plötzlichen Druck dort beruhigen wollte. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf – nicht klar, sondern verschwommen, wie Fragmente eines zerbrochenen Spiegels. Ein Lachen, eine leuchtende Sonne, ein anderer Schatten neben ihr… und dann Leere.
Als die letzten Noten verklangen, brauchte Marlene einen Moment, um wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Der Saal war in tosendem Applaus ausgebrochen, doch sie klatschte nur mechanisch, ohne die Hände wirklich zu bewegen.
„Das war außergewöhnlich“, sagte Niklas neben ihr in einem bewundernden Ton. „Ein wirklich talentierter Künstler.“
Seine Worte klangen nüchtern, fast analytisch, als ob er die Musik wie ein gut ausgeführtes Projekt betrachtete. Für Marlene fühlte es sich so unpassend an, dass sie ihn nur stumm anblicken konnte. Worte schienen nicht genug zu sein, um das auszudrücken, was sie fühlte.
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Nach dem Konzert fand im oberen Foyer ein Empfang statt. Die Gäste sammelten sich um Stehtische, nippten an Sektgläsern und tauschten höfliche Komplimente über die Darbietung aus. Marlene folgte Niklas aus Gewohnheit, doch sie fühlte sich wie abwesend, als ob sie sich selbst von außen beobachtete.
Ihr Blick wanderte immer wieder zur Bühne, die nun dunkel und verlassen war. Sie wollte David Lorenz sehen, wollte mit ihm sprechen, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Vielleicht, weil sie spürte, dass er etwas berührt hatte, das tief in ihr verborgen lag.
„Ich hole uns etwas zu trinken“, sagte Niklas und verschwand in der Menge.
Marlene nutzte den Moment. Sie fragte einen der Kellner, ob er wisse, wo sich David Lorenz aufhielt.
„Er war kurz hier oben, aber ich glaube, er ist bereits gegangen“, antwortete der Mann.
Sie fühlte einen unerklärlichen Stich der Enttäuschung. Doch gleichzeitig wusste sie, dass sie diesen Moment nicht vergessen würde. Die Melodie schien in ihr nachzuklingen, ein leises Flüstern, das sie nicht loslassen würde.
Eine Frau in einem roten Kleid sprach sie an, als sie ziellos durch den Raum wanderte. „Hat Ihnen das Konzert gefallen?“ Die Frage war höflich, doch Marlene zögerte.
„Es war… anders. Sehr intensiv.“
Die Frau nickte nachdenklich. „Ja, seine Musik hat diese Eigenart, als würde sie etwas in einem wachrufen. Etwas, das man oft nicht erklären kann.“
Marlene nickte, fühlte sich aber unfähig, mehr zu sagen.
Als Niklas zurückkehrte und ihr ein Glas reichte, fühlte sich Marlene wie abwesend. Der Rest des Abends verging in einem Nebel aus Höflichkeiten und leeren Gesprächen. Sie lächelte, nickte und sprach, ohne wirklich da zu sein.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass etwas begonnen hatte. Etwas, das sie noch nicht verstehen konnte, das aber unmöglich zu ignorieren war.
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Spät in der Nacht, zurück in ihrem Penthouse, stand Marlene an der Fensterfront und blickte auf die glitzernde Stadt hinaus. Die Melodie von David Lorenz hallte noch immer in ihrem Kopf wider, jedes Detail so klar, als würde sie erneut gespielt.
Sie legte eine Hand auf die kühle Glasfläche des Fensters. „Verlorene Spiegel“, hatte das Stück geheißen. Der Name war ebenso treffend wie die Musik selbst. Es war, als hätte sie für einen Moment etwas in sich selbst gesehen, etwas Zerbrochenes, das sie dringend verstehen musste.
Die Frage war nur, wo sie anfangen sollte.