App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Der Sturm bricht los


Alruna

Die aufkeimende Dunkelheit der Nacht senkte sich wie ein schwerer Schleier über das Kloster Sankt Walburga. Der Wind, der tagsüber sanft durch die Eichen des umliegenden Waldes gestrichen war, hatte sich in den letzten Stunden verstärkt und rüttelte ungeduldig an den hölzernen Fensterläden. In der Schreibstube flackerte das Licht der Kerzen, die Schatten auf die alten Steinmauern warfen. Alruna saß an ihrem Arbeitstisch, doch ihre Aufmerksamkeit lag nicht bei dem Pergament vor ihr. Die lateinischen Worte verschwammen vor ihren Augen, und ihre Feder stockte auf halbem Weg. Eine unbestimmte Unruhe nagte an ihr, als ob die Welt den Atem anhalten würde.

Der Tag hatte ihr bereits ein Gefühl des Unbehagens gebracht, das sie nicht abschütteln konnte. „Die Winde tragen Unheil,“ hatte Schwester Ingrid am Nachmittag gemurmelt, als sie im Kräutergarten die welke Petersilie schnitt. Alruna hatte versucht, sich selbst zu beruhigen, hatte Ingrids Worte mit einem Lächeln als Aberglauben abgetan. Doch jetzt, im flackernden Schein der Kerzen, wirkte selbst dieses schlichte Urteil unheilschwanger.

Ein plötzlicher, dumpfer Klang ließ sie in ihrer Arbeit innehalten. Sie hob den Kopf und lauschte, während ihr Herz schneller schlug. Etwas Schweres schien tief in den Mauern des Klosters auf den Boden gefallen zu sein. Ein Moment der Stille folgte, dann nichts. Alruna schüttelte fast unmerklich den Kopf und zwang sich zu der Annahme, dass es nur der Wind gewesen sein musste, der eine lose Tür oder ein Stück Holz bewegt hatte.

Die Tür zur Schreibstube öffnete sich leise, und Schwester Ingrid trat ein. Ihre sonst so strenge Haltung war aufgelöst; ihre grauen Haare fielen ihr unordentlich in das blasse Gesicht. Ihre Hände umklammerten die schweren Stofffalten ihres Habits, als suche sie Halt.

„Alruna,“ flüsterte Ingrid hastig, „es ist etwas nicht in Ordnung. Komm mit mir.“

Alruna legte die Feder zur Seite und erhob sich. „Was ist los?“ Ihre Stimme war leise, doch die Besorgnis darin unüberhörbar.

Ingrid zögerte, als ob sie selbst gegen ihre Worte ankämpfte. „Ich habe Männer gesehen,“ sagte sie schließlich, „hochgewachsene Männer in Kapuzen, am Rande des Waldes. Sie beobachten uns.“

Alrunas Kehle wurde trocken. Die Geschichten, die sie über Überfälle durch die Nordmänner gehört hatte, stiegen in ihrem Geist auf. „Wikinger,“ flüsterte sie beinahe lautlos, ihre blaugrauen Augen weiteten sich.

„Wir müssen die Äbtissin informieren,“ drängte Alruna, doch Ingrid schüttelte den Kopf. „Die Äbtissin schläft, und es wäre unklug, die anderen Schwestern zu beunruhigen. Wir müssen wachsam bleiben, ohne Panik zu verbreiten.“ Ihre Stimme war fest, doch Alruna konnte das Zittern darin hören.

Ingrid griff nach Alrunas Hand und zog sie sanft, aber bestimmt aus der Schreibstube hinaus. „Hilf mir, die Texte zu sichern. Wenn sie in die falschen Hände geraten, könnte das verheerende Folgen haben.“

Alruna folgte ihr durch die stillen Gänge, während das Mondlicht durch die bleiverglasten Fenster hereinflutete und lange, unheimliche Schatten auf den Steinboden warf. Der Duft von Weihrauch, der sonst Trost spendete, schien plötzlich schwer und erdrückend. Gedanken an Sicherheit und Schutz, die das Kloster immer vermittelt hatte, waren wie weggeweht.

In der Bibliothek angekommen, begann Ingrid, hektisch die wertvollsten Manuskripte aus den Regalen zu ziehen. „Diese hier,“ murmelte sie, fast zu sich selbst, „sind von unschätzbarem Wert – die Schriften der Kirchenväter, die alten Übersetzungen. Wir dürfen sie nicht zurücklassen.“

Alruna griff nach einem groben Leinensack und half mechanisch, die Bände zu verstauen. Ihre Finger waren zitterig, doch ihr Geist regte sich: Sollte sie nicht lieber die anderen Nonnen warnen oder Schutz suchen? Doch Ingrid hatte recht – diese Texte waren ein unsichtbarer Schild gegen die Barbarei und durften nicht verloren gehen. Ihre Gedanken sprangen zu dem Stein mit der Rune, den sie im Wald gefunden hatte. Wyrd. Schicksal. War dies nun sein Werk?

Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sie beide innehalten. Kurz darauf folgten Schreie und das gellende Heulen von Männern. Das Tor des Klosters war durchbrochen. Das Geräusch von Metall auf Metall hallte durch die Gänge und ließ die Mauern selbst zu zittern scheinen. Alruna spürte, wie ihre Beine weich zu werden drohten.

„Wir müssen fort!“ rief Ingrid, während sie nach Alrunas Arm griff. Der Sack mit den Manuskripten schlug schwer gegen ihre Beine, als sie durch die Gänge flohen. Nonnen strömten aus ihren Zellen, ihre Gesichter von Panik gezeichnet. Manche fielen auf die Knie und flehten lautstark zu Gott, während andere starr vor Angst verharrten. Das Chaos füllte die Hallen, und Alruna fühlte die Last der Verantwortung, die Texte zu schützen, wie ein physisches Gewicht auf ihren Schultern.

Als sie den Innenhof erreichten, stockte Alruna der Atem. Die Wikinger waren bereits eingedrungen. Ihre groben Silhouetten zeichneten sich schemenhaft vor den Flammen ab, die sich wie hungrige Kreaturen an den Holzdächern des Klosters hochleckten. Schwerter und Äxte blitzten im Feuerschein, und die Schreie der Angreifer erfüllten die Luft wie das Gebrüll wilder Tiere.

„Alruna, lauf!“ rief Ingrid, doch Alruna konnte sich nicht bewegen. Ihre Augen blieben auf eine Gruppe Männer gerichtet, die eine Schwester zu Boden warfen. Das Geräusch eines Schwertes, das durch Fleisch schnitt, und das erstickte Keuchen ihres Opfers ließen sie die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnete, brannten Tränen darin.

„Nein!“ Ihre Stimme war ein leises Schluchzen. Doch Ingrid zog sie weiter, bis sie abrupt stehen blieben. Einer der Wikinger hatte sie entdeckt. Er war groß, mit breiten Schultern und einer Axt, die er locker in der Hand hielt. Seine Augen glühten im Licht der Flammen, und ein grausames Lächeln zog über sein Gesicht.

Ingrid hob die Hände. „Im Namen des Herrn,“ sprach sie, ihre Stimme bebend, aber fest, „geht zurück. Dies ist ein heiliger Ort.“

Der Wikinger lachte, ein kaltes, raues Geräusch, das durch die Luft schnitt. Ohne zu zögern, ließ er die Axt niedersausen, und Ingrid fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Blut sickerte in den Stein, und Alruna erstarrte.

Ein heißer Strom von Wut und Schmerz durchbrach ihre Starre. Sie bückte sich, hob einen schweren Stein vom Boden auf und schleuderte ihn mit aller Kraft. Der Wikinger wich aus, doch das Geräusch reichte aus, um ihn auf sie aufmerksam zu machen.

„Du hast Mut,“ sagte eine tiefe, rauchige Stimme hinter ihr. Ein anderer Mann trat aus den Schatten, größer, mit einer Narbe, die sich über sein Gesicht zog, und eisblauen Augen, die sie durchdrangen.

Alruna wich zurück, doch seine Präsenz war erdrückend. „Bleib weg von mir!“ schrie sie, ihre Stimme zitternd vor Angst und Entschlossenheit.

Der Mann zog eine Augenbraue hoch, als sei er amüsiert. „Du bist nicht wie die anderen,“ murmelte er, als ob er zu sich selbst sprach. Sein Blick fiel auf den Sack mit den Manuskripten, dann wieder auf sie. „Wer bist du?“

„Eine Tochter Gottes,“ presste sie hervor, ihre Stimme bebend, doch voller Wut.

Er musterte sie kurz, dann packte er sie am Arm. Sein Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. „Ein Schicksal, das noch geschrieben werden muss,“ murmelte er und zog sie mit sich fort.

Alruna trat und wehrte sich, aber seine Kraft war überwältigend. Die Schreie ihrer Schwestern hallten in ihren Ohren wider, als sie an Bord eines Langschiffs gezerrt wurde, das bedrohlich im Schatten lag. Der Geruch von Teer und Salzwasser füllte ihre Sinne, während die Flammen des Klosters hinter ihr in den Himmel stiegen.

Ihr altes Leben war in Rauch aufgegangen, doch etwas in ihr weigerte sich, aufzugeben. Während die Wellen das Schiff trugen, versprach sie sich selbst, dass sie kämpfen würde – komme, was wolle.