Kapitel 1 — Die Rückkehr der Schatten
Hanna
Das dumpfe Summen des alten Deckenventilators war das einzige Geräusch im verlassenen Lagerhaus. Es war, als würde der Raum selbst atmen, ein Echo der Stille, das sich in die Dunkelheit ausdehnte. Hanna saß an einem metallenen Tisch, das Gesicht im schwachen Licht einer Schreibtischlampe in blasse Schatten gehüllt. Vor ihr lag Adrians Notizbuch, aufgeklappt auf einer Seite, die mit seiner akkuraten, schrägen Handschrift gefüllt war. Die Tinte, leicht verblasst, schien dennoch das Gewicht seiner Gedanken in sich zu tragen. Ihre Augen wanderten wieder und wieder über die Zeilen, als ob sie etwas finden könnte, das sie bisher übersehen hatte – eine versteckte Botschaft, eine Antwort, die nur für sie bestimmt war.
Neben dem Notizbuch stand eine Tasse schwarzer Kaffee, längst kalt, der scharfe Geruch von abgestandener Bitterkeit mischte sich mit der staubigen Luft. Daneben lag ein Foto: Adrian, ein selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen, neben einer jüngeren, unbekümmert wirkenden Hanna. Ihre Finger glitten über das leicht zerknitterte Papier, während eine Erinnerung in ihr aufstieg – ein Nachmittag, an dem Adrian ihr beigebracht hatte, wie man zwischen den Zeilen liest, „weil die Wahrheit selten offensichtlich ist“. Ein schwerer Kloß bildete sich in ihrer Kehle. „Ich werde dich nicht enttäuschen“, flüsterte sie in die Dunkelheit, doch ihre Stimme klang hohl, selbst in ihren eigenen Ohren.
Die Pinnwand an der Wand vor ihr war ein chaotisches Netz aus roten und schwarzen Fäden, die Artikel, Ausdrucke von Chatlogs und handschriftliche Notizen miteinander verbanden. Jede Verbindung schien eine Geschichte zu erzählen, ein Puzzle, das sich ihr entzog. Die Schatten der Fäden tanzten im Licht der Lampe, unwirklich und doch bedrückend real. Isabella war immer noch da draußen, irgendwo in dieser düsteren Welt, und jede Spur auf der Pinnwand wirkte wie ein leises Flüstern ihrer stetigen Präsenz.
Die Tür hinter ihr öffnete sich mit einem leisen Quietschen, und das blaue Licht eines Laptops kündigte Rahul an, bevor ihre Silhouette sich im Rahmen abzeichnete. Sie trug ihren vertrauten, praktischen Rucksack, und ihre Augen wirkten angespannt, als ob sie etwas mit sich trüge, das sie nicht länger verbergen konnte. Die Stille des Raumes schien für einen Moment zu brechen.
„Hanna“, begann sie, ohne eine Begrüßung. Ihre Stimme war leiser als gewohnt, fast bedrohlich in ihrer Dringlichkeit. „Ich habe etwas gefunden, aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist.“
Hanna wandte sich langsam um, ihre Hände noch immer auf dem Notizbuch. „Was hast du entdeckt?“ Ihre Stimme war ruhig, aber ihre Augen suchten bereits Rahuls Gesicht nach Antworten ab.
Rahul stellte den Laptop auf den Tisch, ihre schlanken Finger huschten über die Tastatur. Zahlen und Symbole blitzten auf dem Bildschirm auf, ein komplexes Durcheinander, das selbst für Hanna schwer zu entziffern war. Sie verstand jedoch genug, um zu wissen, dass es sich um verschlüsselte Daten handelte. Rahul seufzte, eine Mischung aus Frustration und Sorge. „Ich habe Isabellas alte Kommunikationskanäle überwacht. Nach allem, was passiert ist, hätte ich erwartet, dass sie tot sind. Aber sie sind wieder aktiv. Und nicht nur das – es sieht aus, als ob sie sich reorganisieren.“
Hannas Augen verengten sich, während sie auf den Bildschirm starrte. Rahul vergrößerte ein Diagramm, das schematisch Aktivitätscluster zeigte – chaotisch, aber mit einer versteckten Ordnung, die nur jemand wie Rahul erkennen konnte. „Es ist, als würde jemand alte Fäden aufgreifen und sie neu verweben“, erklärte Rahul mit einer nervösen Schärfe in ihrer Stimme. „Es gibt wiederkehrende Muster, fast wie ein Schwarm, der Anweisungen empfängt.“
Hanna lehnte sich zurück, ihr Blick wanderte zur Pinnwand. Ein nervöses Pochen begann in ihrer Schläfe. „Das bedeutet, sie versuchen, sich neu zu formieren. Jemand koordiniert das.“
Rahul nickte langsam. „Aber ich weiß noch nicht, wer. Es sind nur Fragmente, aber genug, um uns Sorgen zu machen. Was auch immer sie vorhaben, ich glaube nicht, dass es Zufall ist.“
Hanna wollte gerade antworten, als die Tür erneut aufging. Dieses Mal war es Raphael, dessen schwere Schritte den Raum füllten. Sein Gesicht war hart, seine Augen scharf, wie immer, und doch schwang ein Hauch von Besorgnis darin mit, der Hanna nicht entging. „Ich habe Gerüchte gehört“, begann er, während er sich an der Wand abstützte. „Es heißt, dass einige von Isabellas Anhängern wieder auftauchen. Sie planen etwas – ein Treffen, möglicherweise mehr. Zwei Namen sind gefallen. Menschen, die wir beim letzten Mal nicht erwischen konnten. Es klingt, als ob sie damit anfangen, ihre Kräfte neu zu bündeln.“
Hanna zog die Augenbrauen zusammen, während ihre Gedanken rasten. „Das stimmt mit dem überein, was Rahul gefunden hat“, sagte sie und drehte sich zu den beiden um. Ihre Stimme war ruhiger, als sie sich fühlte. „Isabellas Netzwerk ist nicht zerschlagen. Sie hat immer noch Macht, und sie hat immer noch Anhänger. Und wenn das stimmt ...“, sie hielt inne, ließ die Worte kurz wirken, „... dann hat sie immer noch Pläne.“
Die Stille, die folgte, war schwer, geladen mit unausgesprochenen Ängsten. Raphael verschränkte die Arme vor der Brust, sein Blick durchbohrte Hanna. „Und was noch wichtiger ist: Es bedeutet, dass sie nie wirklich verschwunden war. Das hier könnte der Anfang von etwas sein, das größer ist, als wir dachten. Wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir den Vorteil.“
Für einen Moment schien die Luft im Raum zu stocken. Hannas Gedanken wanderten zu Adrian, zu seinem Verlust, der an ihr nagte wie eine offene Wunde. Sie dachte an die Leben, die zerstört worden waren, und an die, die noch immer unter Isabellas Einfluss standen. Ihr Griff um das Notizbuch wurde fester. Sie konnte nicht zulassen, dass alles umsonst gewesen war.
Endlich hob sie den Kopf, ihre Augen funkelten mit neuem Entschluss. „Wir haben keine Wahl“, sagte sie, ihre Stimme fester als zuvor. „Wenn sie sich neu formieren, müssen wir schneller sein. Wir müssen herausfinden, was sie planen, und wir müssen sie aufhalten. Dieses Mal endgültig.“
Rahul nickte langsam, obwohl ihre Zweifel in ihrem Blick glühten. „Ich werde die Daten weiter analysieren“, sagte sie. „Vielleicht finde ich heraus, wo diese Cluster konzentriert sind.“
Raphael trat einen Schritt näher, seine Sorge war nun greifbar. „Ich werde meine Kontakte weiter befragen“, sagte er. „Aber Hanna ...“ Er hielt inne, als ob er mit sich rang. „Du musst bereit sein, Risiken einzugehen, die wir bisher vermieden haben. Isabella wird jetzt vorsichtiger sein. Und härter.“
Hanna sah ihn an, ihre Entschlossenheit unerschütterlich. „Ich bin bereit. Ich schulde es Adrian. Ich schulde es uns allen.“ Sie wandte sich an Rahul. „Finde heraus, was du kannst. Und Raphael – behalte alles im Auge. Ich will jede Spur, egal wie klein.“
Die beiden nickten, und ein Moment der stillen Übereinkunft lag in der Luft. Als Rahul und Raphael den Raum verließen, blieb Hanna allein zurück. Sie drehte sich zur Pinnwand, griff nach einem neuen roten Faden und befestigte ihn an einem weiteren Punkt. Ein neuer Anfang, dachte sie. Ein letzter Kampf.
Das Licht der Lampe flackerte, als ein kalter Luftzug durch den Raum zog. Hanna zog ihre Jacke enger um sich und starrte auf das Netz aus Informationen vor ihr. Isabella war nicht besiegt – noch nicht. Doch das würde sich ändern. Hanna würde dafür sorgen. Was auch immer es kosten mochte.