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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Der Spiegelpalast


Hanna

Der Abend war hereingebrochen, und mit ihm legte sich eine bedrückende Stille über die Stadt, als hätte sie den Atem angehalten. Der Wind, scharf und eisig, trug den Vorboten des nahenden Winters mit sich, während Hanna in den Schatten eines alten Gebäudes am äußersten Rand der Stadt stand. Vor ihr erhob sich der Spiegelpalast, ein verfallenes Herrenhaus, das in der Dunkelheit wie ein Schatten seiner einstigen Pracht wirkte. Die bröckelnden Fassaden sprachen von vergangenen Glanzzeiten, aber die zerbrochenen Fenster spiegelten das fahle Mondlicht in verzerrten Mustern wider, die die Szenerie unheimlich und surreal erscheinen ließen.

Hannas Brust hob und senkte sich flach. Jeder Atemzug fühlte sich schwer an, als ob die Luft selbst von einer unsichtbaren Last erfüllt wäre. Die Worte der anonymen Nachricht hallten in ihrem Kopf wider: Komme allein. Der Spiegelpalast war ein Ort, der Antworten versprach – doch auch die Schatten der Gefahr lauerten hier. Rahul und Raphael hatten sie inständig gewarnt, aber sie wusste, dass dies eine Reise war, die sie alleine antreten musste.

Der Reißverschluss ihrer Jacke klemmte, als sie ihn nervös nach oben zog. Eine plötzliche Böe wirbelte Staub und alte Blätter um ihre Stiefel. Ihre Hände zitterten leicht, aber sie ignorierte es. Langsam stieg sie die marmornen Stufen des Palastes hinauf, die unter ihren Schritten knirschten. Die halb geöffnete Eingangstür schien sie zu erwarten, und obwohl sie sich innerlich sträubte, trat sie ein.

Das Innere des Palastes war erstickend still, nur das leise Knarren des alten Gebäudes und ihre eigenen Schritte hallten wider. Mondlicht drang durch die zersplitterten Fenster und warf bizarre Muster aus Licht und Schatten auf die Wände. Der Geruch von fauligem Holz, Glasstaub und einem Hauch von abgestandenem Parfüm hing in der Luft, vermischt mit einer metallischen Note, die Hanna an getrocknetes Blut erinnerte.

Ihre Augen wanderten über die Halle, die sich weit und unheimlich vor ihr erstreckte. Zerbrochene Spiegel bedeckten die Wände, ihre Fragmente wirkten wie tausend blinde Augen, die sie aus der Dunkelheit heraus beobachteten. Das fahle Licht des Mondes brach sich in den Splittern, flackerte und ließ die Oberfläche der Scherben fast lebendig erscheinen. Ein leises Flüstern drang an ihre Ohren, kaum mehr als ein Hauch. Es war ungreifbar, wie ein Echo längst vergangener Stimmen.

Hanna hielt inne. Ihre Sinne waren angespannt. Erinnerungen an Adrians Ermahnungen drängten sich auf: „Traue niemals den Schatten.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten, schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Doch dann hörte sie es – Schritte. Langsam und gleichmäßig, das Knarren von Lederstiefeln auf dem alten Boden.

Ihr Körper erstarrte. Ihre Hand glitt in die Tasche, wo sie das vertraute Gewicht ihres kleinen Messers spürte. Sie drehte sich um, den Atem anhaltend, und sah eine Gestalt aus der Dunkelheit einer Seitenhalle treten. Der Mann war groß, schlank und bewegte sich mit der Gelassenheit eines Raubtiers. In seiner Hand hielt er eine silberne Maske, deren filigrane Gravuren im Mondlicht glänzten.

„Hanna Winter“, sagte er mit ruhiger, tiefer Stimme. Sein Blick war unerträglich intensiv, als würde er direkt in ihre Gedanken sehen. „Willkommen. Ich habe dich erwartet.“

„Wer sind Sie?“ Hannas Stimme war fest, doch die Spannung in ihrer Haltung verriet die Wachsamkeit, mit der sie jede Bewegung des Fremden beobachtete.

„Mein Name ist Lucien.“ Er machte eine leichte, fast unmerkliche Verbeugung, die mehr Andeutung als Geste war. „Es freut mich, dich endlich zu treffen.“

„Ich kenne keinen Lucien. Warum sollte ich Ihnen vertrauen?“ Ihre Hand umklammerte das Messer fester.

Lucien trat einen Schritt näher, stoppte jedoch, als sein Blick auf ihre Tasche fiel. Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen, das weder freundlich noch bedrohlich war – eher eine Mischung aus Amüsement und Bedauern. „Vielleicht solltest du mir nicht vertrauen. Das wäre sicherlich klug. Aber ich bin nicht hier, um dir zu schaden. Ganz im Gegenteil.“

„Ganz im Gegenteil?“ Hanna spuckte die Worte fast aus. „Wie stehen Sie zu Isabella?“

Eine kurze Pause entstand, bevor Lucien antwortete. Sein Blick wanderte zur silbernen Maske in seiner Hand, die er nun beinahe nachdenklich drehte. „Ich war einst an ihrer Seite. Ihre rechte Hand, könnte man sagen.“ Seine Stimme wurde leiser, ein Hauch von Bitterkeit schwang mit. „Doch irgendwann erkannte ich, dass ihr Weg in den Abgrund führt. Isabellas Vision ist nichts als Täuschung, ein Netz aus Lügen, das nur Zerstörung bringt. Ich habe mich abgewandt.“

Hanna kämpfte gegen die Welle von Zweifeln an, die in ihr aufstieg. Die Worte eines Verräters waren leicht gesagt – ihre Wahrheit jedoch schwer zu erkennen.

„Wieso sollte jemand wie Sie mir helfen?“ fragte sie, ihre Stimme mit einem Hauch von Sarkasmus gespickt.

Lucien zögerte, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Weil ich nicht will, dass sie gewinnt. Und weil ich glaube, dass du vielleicht die Einzige bist, die sie stoppen kann.“

Hannas Blick bohrte sich in seinen. Sein Geständnis rüttelte an ihr, doch sie konnte nicht sagen, ob es die Wahrheit war.

Plötzlich durchbrach ein Geräusch die Stille – das scharfe Splittern von Glas, irgendwo in den tieferen Hallen des Palastes. Hanna fuhr zusammen, und Lucien drehte sich in Richtung des Geräuschs. Für einen Moment wirkte er, als würde er lauschen, dann wandte er sich wieder ihr zu.

„Du solltest gehen“, sagte er mit ernster Stimme. „Dieser Ort ist nicht sicher, und die, die kommen, sind nicht hier, um dir zu helfen.“

Ein Schauer lief Hanna über den Rücken, doch sie verschränkte die Arme. „Ich gehe nirgendwohin, ohne Antworten.“

Lucien trat näher, bis sie fast auf gleicher Höhe standen. Seine smaragdgrünen Augen waren durchdringend, und Hanna spürte, wie ein seltsames Kribbeln ihren Nacken hinaufstieg. „Manchmal“, sagte er leise, „sind die Antworten, die du suchst, gefährlicher als die Fragen.“

Bevor sie reagieren konnte, drehte er sich abrupt um, seine Bewegungen so geschmeidig wie ein Schatten, und verschwand in der Dunkelheit. Hanna stand allein in der Halle, das Echo seiner Worte und das flackernde Muster des Mondlichts auf den Spiegeln um sie herum.

Ihre Gedanken rasten. Wer war Lucien wirklich? Und wie tief war er in Isabellas Machenschaften verstrickt? Der Spiegelpalast hatte keine Klarheit gebracht – nur ein Chaos aus Fragen und ein beunruhigendes Gefühl, dass sie beobachtet wurde.

Sie nahm einen tiefen Atemzug, straffte die Schultern und machte sich auf den Rückweg. Der kalte Wind draußen begrüßte sie wie eine längst vergessene Realität, während der Palast hinter ihr in der Dunkelheit verschwand. Doch eines war sicher: Der Weg zurück war keine Option mehr.