Kapitel 1 — Unruhige Zeichen der Zeit
Hanna/Siv
Die kühle Morgenluft drang durch die schmalen Ritzen der hölzernen Wände und weckte Hanna aus einem unruhigen Schlaf. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, ihre Hände klammerten sich an die Decke, als suchten sie Schutz vor etwas Unsichtbarem. Ihre Träume hatten erneut Bilder in ihren Geist gebrannt, die sich wie Fragmente eines Puzzles anfühlten: gewaltige Türme aus Glas und Stahl, die in den Himmel ragten, Straßen voller Menschen in fremdartiger Kleidung, die wie ein rauschender Fluss durch eine Stadt strömten. Doch diese Bilder wurden immer wieder von anderen Szenen unterbrochen – Flammen verschlangen Holzhäuser, während Krieger in glänzenden Rüstungen aufeinander einhieben. Metall klirrte, Schreie hallten, und das Geräusch von brennendem Holz überlagerte alles.
Hanna fuhr hoch, ihr Atem war schwer, und ihre Finger suchten Halt auf dem groben Holzboden, der von der nächtlichen Kälte durchzogen war. Sie stützte das Gesicht in ihre Hände und kämpfte darum, die albtraumhaften Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. Es war, als versuche die Zeit selbst, ihr eine Botschaft zu übermitteln, doch deren Bedeutung blieb verborgen. Die letzten Monate hatten ihr gezeigt, dass diese Welt – ihre neue Heimat – keine feststehende Vergangenheit war. Die Grenzen der Zeit waren durchlässig, verletzlich wie die Oberfläche eines stillen Sees. Und wenn sie eines gelernt hatte, dann war es die zerstörerische Kraft, die selbst eine kleine Störung freisetzen konnte.
Hanna griff nach ihrem dicken Wollumhang, zog ihn fest um ihre Schultern und trat hinaus in die frische Morgenluft. Ein kühler Wind streichelte ihre erhitzte Haut, und für einen Augenblick schien sich der Knoten der Sorge in ihrer Brust zu lösen. Das Dorf Skjoldheim lag still und friedlich vor ihr. Aus der Ferne hörte sie das erste Hämmern aus der Schmiede und das dumpfe Blöken der Schafe. Doch die Ruhe war trügerisch. Unter der Oberfläche lag etwas, das sie nicht benennen konnte – ein ungreifbares Etwas, das sich wie ein Schatten in das Licht des beginnenden Tages mischte.
„Du bist früh auf den Beinen,“ ertönte eine vertraute Stimme hinter ihr. Hanna drehte sich um und sah Ragnar, dessen durchdringender Blick sie musterte. Sein Mantel aus Bärfell hing locker über seiner Schulter, und das erste Licht des Morgens ließ die silbernen Strähnen in seinem Haar aufblitzen. Seine Erscheinung war beruhigend, doch in seiner Haltung lag eine Spannung, die er nicht verbergen konnte.
„Ich konnte nicht schlafen,“ antwortete sie leise und richtete ihren Blick wieder auf das Dorf. „Die Träume... sie werden immer intensiver, Ragnar. Ich sehe Dinge, die keinen Sinn ergeben. Und doch fühlen sie sich so... real an.“
Ragnar trat neben sie, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick über die Hütten schweifen. „Deine Träume haben uns schon oft gewarnt, Hanna,“ sagte er mit ruhiger Stimme. „Aber wir dürfen ihnen nicht erlauben, uns zu lähmen. Was immer sie bedeuten, wir werden uns dem gemeinsam stellen.“
Seine Worte trugen Trost in sich, doch sie konnten den wachsenden Druck in ihrem Inneren nicht mindern. „Es ist nicht nur das,“ drängte sie. „Hast du es nicht bemerkt? Die Tiere im Wald verhalten sich seltsam. Die Wölfe heulen zu Zeiten, zu denen sie sonst schweigen. Und gestern... gestern stieg ein dichter Nebel vom Fluss auf, mitten am Tag, als die Sonne hell schien. Es ist, als ob die Welt aus dem Gleichgewicht geraten wäre.“
Ragnar schwieg einen Moment, bevor er ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Ich habe es bemerkt,“ gab er schließlich zu. „Aber ich wollte dich nicht noch mehr belasten. Vielleicht ist es nur eine Laune der Natur.“
Hanna schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war fest, fast trotzig. „Du weißt so gut wie ich, dass nichts in dieser Welt ohne Grund geschieht.“
Ragnar sah sie lange an, als wäge er seine nächsten Worte ab. Schließlich nickte er langsam. „Dann sollten wir aufmerksam bleiben und nach Antworten suchen. Aber jetzt komm. Lass uns frühstücken. Mit klarem Kopf finden wir vielleicht eine Lösung.“
***
Später am Tag, während Hanna ihren üblichen Pflichten nachging, spürte sie die Blicke der Dorfbewohner auf sich ruhen. Sie hatten sie längst als eine von ihnen akzeptiert, doch in ihrem Respekt schwang immer eine leise Angst mit. Es war, als sähen sie in ihr sowohl eine Heilerin als auch jemanden, der Dinge wusste, die kein Mensch wissen sollte. Sie dachte nicht lange darüber nach. Es gab Wichtigeres, das ihre Aufmerksamkeit verlangte.
Am Nachmittag begegnete sie Emily auf dem Dorfplatz. Das Mädchen war gerade dabei, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Ihr sonst so lebhaftes Gesicht wirkte heute blass, ihre Bewegungen langsamer als gewohnt.
„Emily, alles in Ordnung?“ fragte Hanna und trat näher.
Emily hob den Kopf, zögerte, und ihre Stirn legte sich in Falten. „Es ist nichts, wirklich,“ begann sie, aber dann hielt sie inne. „Na ja... die letzten Nächte waren merkwürdig. Ich habe Träume gehabt... seltsame Träume. Dinge, die ich nicht verstehe. Orte, die ich nie gesehen habe. Und manchmal... habe ich das Gefühl, dass etwas auf mich zukommt. Etwas Großes.“
Hanna legte eine Hand auf Emilys Schulter, ihre Stimme war sanft, aber bestimmt. „Das hättest du mir früher sagen sollen. Deine Träume könnten wichtig sein, Emily. Was genau hast du gesehen?“
Emily schien erleichtert, dass sie ihre Sorgen teilen konnte. „Es waren Bilder, die ich kaum beschreiben kann... Gebäude, die in den Himmel ragen, und... Menschen, die wie Schatten wirkten. Aber die Schatten fühlten sich lebendig an. Und da war ein Geräusch, wie ein Summen oder ein Flüstern. Es hat mich nicht losgelassen, nicht einmal, als ich wach war.“
Hanna spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. „Deine Träume... sie ähneln meinen. Es ist, als würde uns die Zeit selbst warnen. Wir müssen wachsam bleiben, Emily. Diese Zeichen dürfen wir nicht ignorieren.“
Das Mädchen nickte, ihre Augen voller Sorge, aber auch Entschlossenheit. „Was machen wir jetzt?“
Hanna sah in die Ferne, wo der Wald in der tiefstehenden Sonne glühte. „Wir beobachten weiter. Und wir bereiten uns vor. Irgendetwas ist im Gange, Emily. Und es wird uns nicht überraschen, wenn wir bereit sind.“
Ein Heulen durchschnitt die Stille, ein einsamer Wolf, dessen Ruf über die Hügel hallte. Hanna und Emily hielten inne und lauschten, das Geräusch war wie eine stumme Warnung, die in der Luft hängen blieb. Schließlich hob Hanna die Krüge und bedeutete Emily, ihr zu folgen. Es war noch viel zu tun.
***
Als die Nacht über Skjoldheim hereinbrach, lag Hanna wach in ihrem Bett. Der Mond warf ein silbriges Licht durch das kleine Fenster, und der Wind ließ die Äste gegen die Wände ihrer Hütte kratzen. Ihre Gedanken kreisten um Emilys Worte und die seltsamen Veränderungen, die sie selbst beobachtet hatte. Nebel, Wölfe, Träume – all das fügte sich zu einem Bild, das sie noch nicht entschlüsseln konnte.
Sie wusste, dass sie mit Ragnar und den anderen sprechen musste. Doch tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass die Antworten, die sie suchte, außerhalb des Dorfes lagen. Etwas war in Bewegung geraten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie alle einholen würde.
Sie schloss die Augen, bereit für eine weitere Nacht voller unruhiger Träume, während der Wind durch die Dunkelheit heulte und die Welt wie in gespannter Erwartung verharrte.