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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Das Rufen des Amuletts


Hanna

Der Regen prasselte unnachgiebig gegen die Fenster des kleinen Forschungslabors am Rande Hamburgs, während ein bleigrauer Himmel die gesamte Stadt in trügerische Stille tauchte. Es war einer dieser Tage, an denen das Gewicht der Wolken nicht nur den Himmel, sondern auch die eigene Stimmung zu erdrücken schien. Hanna Berger zog die Kapuze ihres Regenmantels fester um die Schultern, bevor sie die Tür aufstieß und in das vertraute Chaos ihres Labors trat. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und regennasser Erde lag schwer in der Luft.

Die Regale, bis zum Bersten gefüllt mit Manuskripten, Berichten und Artefaktkopien, wirkten wie die gesammelten Gedanken eines unermüdlichen Geistes, der nie zur Ruhe kam. Auf einem zentralen Tisch stand ein Modell eines Wikingerschiffs, so detailreich, dass man fast das Holzknarren und die Schreie der Krieger hören konnte.

„Du bist spät, Hanna“, ertönte Jonas' Stimme von einem entlegenen Arbeitstisch. Er saß zwischen einem Wirrwarr aus Notizen, zerknitterten Karten und leuchtenden Bildschirmen, sein Blick starr auf die endlose Liste von Koordinaten gerichtet, die vor ihm aufglühten.

Hanna warf ihre Tasche auf einen Stuhl und schüttelte den Regen ab. „Guten Morgen, Jonas. Schön, dass du dich um meine Pünktlichkeit kümmerst – ich dachte, du wärst hier, um mit mir an einer historischen Entdeckung zu arbeiten, nicht als Zeitwächter.“

„Nun, die Wetterlage für unseren Flug nach Norwegen sieht alles andere als vielversprechend aus“, murmelte Jonas, ohne den Kopf zu heben. „Ich hoffe, du hast dir wenigstens eine Regenjacke eingepackt.“

„Ich habe meine Prioritäten“, erwiderte sie trocken und griff nach einer Tasse Kaffee. Die Wärme der Keramik entspannte ihre kalten Finger, während ein Anflug von Humor ihre sonst so angespannte Miene aufhellte. „Kaffee zuerst, Jonas. Flugangst später.“

Ein leises Schnauben entwich seinem Mund, bevor er eine Karte hochhielt. „Das Team hat die Höhle lokalisiert. An den Klippen von Draugaskär. Die Einheimischen nennen sie ‚den verfluchten Ort‘. Angeblich wagt sich dort niemand hin.“

Hanna trat näher und betrachtete die Karte mit zusammengezogenen Brauen. Draugaskär. Schon der Name schien ein Echo längst vergessener Zeiten zu tragen. „Das ist doch der Punkt bei Legenden, Jonas“, sagte sie, ihre Stimme leise und doch voller Entschlossenheit. „Unter dem Aberglauben liegt oft etwas Wahres. Und wir werden es morgen herausfinden.“

Doch während sie sprach, spürte sie das leise Flattern eines Zweifels, das sie nicht abschütteln konnte. Es war mehr als die übliche Vorfreude auf eine Ausgrabung – es war ein Unbehagen, ein seltsames Ziehen, das sie nicht recht benennen konnte.

Am nächsten Morgen brach das Team bei Sonnenaufgang auf. Der Flug nach Norwegen verlief überraschend ruhig, doch die Luft war erfüllt von gespannter Erwartung. Als sie schließlich an den Klippen von Draugaskär ankamen, überwältigte Hanna die rohe, ungezähmte Schönheit des Ortes. Der Wind peitschte ihnen entgegen, und das Brüllen der tosenden Wellen hallte wie ein urzeitlicher Ruf durch die Luft.

„Beeindruckend, nicht wahr?“ Jonas trat neben sie und reichte ihr ein Fernglas. „Kein Wunder, dass die Leute Geschichten über diesen Ort erfinden.“

Hanna ließ ihren Blick über die schroffen Felsen gleiten, die wie die Zähne eines gewaltigen Ungeheuers aus der Erde ragten. „Beeindruckend, ja. Aber tödlich“, murmelte sie. „Einen falschen Schritt, und man verschwindet für immer.“

Der Abstieg zur Höhle war mühsam und gefährlich. Der schmale Pfad war von Moos überwuchert, die Steine glitschig vom Sprühnebel der brechenden Wellen. Der Eingang zur Höhle lag verborgen hinter einer Wand aus Efeu, als wolle die Natur das Geheimnis schützen, das sich dahinter verbarg.

Als sie eintraten, verschluckte die Dunkelheit die letzten Strahlen des Tageslichts. Ihre Taschenlampen warfen unruhige Lichtkegel, die über die unebenen Wände huschten. Die Luft war schwer und feucht, erfüllt von einem Geruch nach Erde und kaltem Stein.

„Was zum…?“ Jonas kniete sich vor eine Wand und strich mit den Fingern über eingeritzte Runen, die wie Narben in den Stein geschnitten waren. „Diese Symbole... sie sind älter als alles, was wir bisher gesehen haben. Und sie sehen aus wie eine... Warnung.“

Warnung. Das Wort hallte in Hannas Kopf nach wie ein Echo aus der Vergangenheit. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, während sie die Runen betrachtete. Sie konnte sie nicht lesen, doch sie schienen zu ihr zu sprechen. Nicht mit Worten, sondern mit einer ungreifbaren, unheimlichen Vertrautheit.

Ein plötzlicher Lichtblitz ließ sie zusammenzucken. Am anderen Ende der Höhle schimmerte ein silbriges Glühen, das sich wie ein lebendiger Atemzug durch die Dunkelheit zog. „Was ist das?“ flüsterte sie, ohne den Blick abzuwenden.

In einer kleinen, natürlichen Vertiefung im Fels lag das Objekt, das das Licht ausstrahlte. Ein Amulett, filigran gearbeitet, mit Runen verziert, die in einem Licht zu tanzen schienen, das nicht von dieser Welt war. Es war alt, uralt, und doch wirkte es lebendig, fast als ob es sie anstarrte.

„Hanna, pass auf –“ Jonas’ Warnung wurde zu einem gedämpften Echo, als sie ihre Hand nach dem Amulett ausstreckte.

Kaum hatte sie es berührt, durchzuckte ein elektrisierendes Kribbeln ihren Körper. Die Welt um sie herum begann zu verschwimmen, Farben und Formen lösten sich auf wie Rauch im Wind. Ihr Atem stockte, als Bilder in ihrem Geist auftauchten: brennende Wälder, kreischende Stimmen, ein Wolf, dessen Augen wie Sterne glühten.

Ein Flüstern drang an ihr Ohr, leise und doch durchdringend. Es rief nach ihr, zog sie tiefer in eine fremde, unbegreifliche Dunkelheit.

Die Realität brach auseinander, und ein gleißendes Licht verschlang sie. Für einen endlosen Moment war sie schwerelos, gefangen in einem Strudel aus Licht und Schatten. Dann kam die Dunkelheit – tief, allumfassend, still. Nur das Pochen ihres Herzens war zu hören, wie ein Trommelschlag in der Leere.

Nach einer Ewigkeit drangen neue Geräusche an ihr Ohr. Knistern, wie von einem Feuer. Stimmen, fremd und doch seltsam vertraut. Ein schwerer, würziger Geruch nach Rauch und Kräutern lag in der Luft, und ein orangerotes Licht flackerte in der Ferne.

Hanna öffnete die Augen. Über ihr wölbte sich eine Decke aus grob gezimmertem Holz. Eine Silhouette bewegte sich im Licht des Feuers, und eine Stimme erklang, ruhig und weich: „Ruhig, Siv. Du bist sicher.“

Siv? Der Name hallte in ihrem Kopf wider, fremd und doch vertraut. Ihre Kehle war trocken, ihre Gedanken wirbelten. Sie wollte sprechen, doch die Worte blieben hängen.

Wo war sie? Das letzte Flüstern des Amuletts schwebte noch immer in ihrem Geist, leise und eindringlich: „Dein Weg hat erst begonnen.“