App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Erwachen im Vergangenen


Hanna/Siv

Der erste Atemzug brannte in Hannas Lunge. Die Luft war dick mit Holzrauch und einem Hauch von getrockneten Kräutern, ein scharfer Kontrast zur sterilen Kälte des Forschungslabors, das sie eben noch vor Augen gehabt hatte. Sie öffnete die Augen, blinzelte in das flackernde Licht eines Feuers, das die Schatten an den Wänden einer kleinen, rustikal eingerichteten Hütte tanzen ließ. Die Decke bestand aus groben Holzbalken, die von dunklen Flecken und Rissen durchzogen waren.

War das ein Traum? Ein Hirngespinst, ausgelöst durch Sauerstoffmangel oder die mystische Aura des Amuletts? Doch das Prickeln in ihren Fingern, das leise Knistern des Feuers und die fremden Geräusche von Stimmen und Schritten vor der Hütte fühlten sich erschreckend real an.

Hanna versuchte, sich aufzurichten, doch das Gewicht ihrer eigenen Glieder drückte sie zurück in die kratzige, aber weiche Decke. Ein Lichtschimmer fiel auf ihre Hand – ihre Hand? Der schmale, zierliche Handrücken, das Gefühl einer Haut, die rau von Arbeit war, ließen ihr Herz schneller schlagen. Sie starrte die fremd vertrauten Finger an, als sie ein leises Knarren hörte. Hanna drehte den Kopf, und ihr Blick fiel auf eine metallische Oberfläche – ein kleiner, polierter Bronzeteller. Die Reflexion zeigte ihr ein Gesicht, das nicht ihres war: eine schlanke Nase, hohe Wangenknochen, und lang geflochtenes, in einem kunstvollen Zopf arrangiertes Haar. Ihre Brust zog sich zusammen, während sie die feinen Stickereien an der Wolltunika bemerkte, die sie trug.

Ein Teil von ihr begann zu schreien, doch sie presste die Zähne zusammen, zwang sich zur Ruhe. Rational denken, analysieren, Lösungen finden – das hatte sie immer ausgezeichnet. Doch wie sollte sie das erklären?

Ein weiteres Knarren an der Tür ließ sie aufschrecken. Eine Frau trat ein, ihre Silhouette füllte den schmalen Eingang. Das Licht des Feuers fiel auf ihr Gesicht, das von feinen Linien gezeichnet und von einer Ruhe geprägt war, die nicht beruhigte, sondern einschüchterte. Ihre Haare waren zu einem dichten Knoten aufgesteckt, und sie trug ein schlichtes Gewand aus Wolle, das von einer Lederschnur an der Taille zusammengehalten wurde.

„Siv,“ sagte die Frau. Ihre Stimme war leise, aber eindringlich, als ob sie nicht nur zu Hanna, sondern zu einem Teil ihrer Seele sprach. „Du bist wach. Die Götter haben dich zurückgebracht.“

Siv. Der Name hallte wie ein Fremdkörper in ihrem Kopf wider. Hanna öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch nichts entkam ihren Lippen. Ihre Kehle fühlte sich trocken und rau an, als hätte sie Staub eingeatmet.

Die Frau trat näher und setzte sich auf einen niedrigen Hocker neben dem Lager. Sie beugte sich vor und nahm Hannas Gesicht in ihre Hände, ihre Berührung überraschend warm und sanft. Ihre Augen, von einem klaren Blau, suchten Hannas mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge.

„Du hast uns Sorgen gemacht, Kind,“ sagte sie und glättete dabei eine Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. Ein Zopf, der nicht Hannas war.

„Wo… wo bin ich?“ brachte Hanna schließlich hervor, ihre Stimme heiser und kaum mehr als ein Flüstern.

Die Frau zog die Augenbrauen zusammen und legte eine Hand auf Hannas Stirn, als prüfe sie auf Fieber. „Du bist zu Hause, Siv. Im Haus der Seherin. Du solltest dich noch ausruhen.“

Die Worte prallten auf Hanna wie ein kalter Schauer. Siv. Haus der Seherin. Sie schloss für einen Moment die Augen, versuchte, ihre wirbelnden Gedanken zu ordnen. Das Amulett. Die Höhle. Der Lichtblitz. Das Flüstern. All das hatte sie hierher gebracht, wohin auch immer dieses „Hier“ war.

Die Tür zur Hütte öffnete sich erneut; diesmal war der Schritt schwerer, bestimmter. Eine zweite Frau trat ein, jüngerer und robuster, mit einer Lederrüstung über einer einfachen Tunika. Die Härte ihrer Züge wurde durch einen misstrauischen Blick noch betont. Ihre Hände ruhten auf den Griffen von zwei Dolchen, die an ihrem Gürtel befestigt waren.

„Ingrid,“ sagte die Neuankömmling mit einem leisen, aber schneidenden Tonfall. „Ist sie bei Sinnen?“

„Freydis,“ antwortete die Ältere, anscheinend Ingrid, ohne aufzusehen. „Sie erholt sich. Doch sie ist schwach. Lass sie sprechen, wenn sie dazu bereit ist.“

Hanna musterte die beiden Frauen. Ihre Kleidung, ihre Art zu sprechen, die ganze Atmosphäre – es war, als hätte sie ein lebendiges Geschichtsbuch betreten. Aber die Frage, die in ihrem Inneren loderte, drängte sich nun nach außen. „Was… was ist passiert? Warum nennt ihr mich Siv?“

Ingrids Hand, die noch immer auf Hannas Stirn ruhte, verharrte für den Bruchteil einer Sekunde. Dann zog sie sich zurück, ihre Augen suchend. „Du bist Siv, Kind. Unsere Heilerin. Der Sturz hat dir vielleicht das Gedächtnis getrübt, aber das wird sich legen. Ruhe dich aus.“

Hanna konnte nicht anders, als den Worten der Frau zu misstrauen – nicht, weil sie unaufrichtig klangen, sondern weil sie so mit Überzeugung gesprochen wurden, dass sie selbst für einen Moment daran glauben wollte. Aber sie war nicht Siv. Sie war Hanna Berger, Archäologin, aus dem 21. Jahrhundert, und das alles hier… das konnte nicht real sein.

„Ich… ich brauche frische Luft,“ stieß sie schließlich aus, ihre Stimme brüchig. „Bitte.“

Freydis zog die Schultern hoch, ihre Augen scharf wie ein Raubtier. „Ich begleite sie,“ sagte sie knapp und trat zur Tür, ohne auf eine Antwort zu warten.

Hanna stolperte auf wackligen Beinen nach draußen. Das Licht des Tages blendete sie, und für einen Moment fühlte sie sich, als würde sie erneut in einen Abgrund gezogen. Doch dann stabilisierte sie sich und atmete die frische, kühle Luft ein.

Das Dorf vor ihr war eine Szene, die direkt aus einem historischen Gemälde entsprungen sein könnte: Langhäuser mit Grasdächern, die sich um einen zentralen Platz gruppierten, wo ein großes Feuer loderte. Dorfbewohner gingen geschäftig ihrer Arbeit nach, während Kinder in der Nähe spielten. Die Geräusche von Hämmern, Hufen und Stimmen erfüllten die Luft. Die Luft war erfüllt von der Mischung aus Rauch, Leder und dem salzigen Hauch ferne See.

„Ungewohnt, oder?“ Freydis’ Stimme schnitt durch ihre Gedanken, scharf und doch mit einer Spur von Amüsement. Hanna drehte sich zu ihr um und bemerkte, dass die Frau sie eindringlich musterte. „Du wirkst… anders, Siv. Etwas an dir hat sich verändert.“

Hannas Herz setzte einen Schlag aus. „Ich… ich habe nur viel durchgemacht. Das ist alles.“

Freydis‘ Blick blieb kalt, doch ein winziger Anflug von Skepsis blitzte in ihren Augen auf. „Dann solltest du dich schnell wieder daran gewöhnen. Die Menschen hier verlassen sich auf dich. Und sie beobachten dich genau.“

Hanna nickte langsam, spürte das Gewicht ihrer Worte. Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte: Sie musste herausfinden, was mit ihr geschehen war und wie sie nach Hause zurückkehren konnte. Aber um das zu tun, musste sie in dieser Welt überleben. Und dafür musste sie – zumindest vorerst – Siv sein.