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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Das Dorf der Krieger


Hanna/Siv

Hanna stand inmitten des Dorfplatzes und fühlte sich wie ein Eindringling in einem lebendigen Gemälde vergangener Zeiten. Der Geruch von Rauch, Erde und Leder umgab sie wie eine unsichtbare Decke. Überall herrschte Bewegung: Frauen sammelten Holz oder flickten Kleidung, während Männer Werkzeuge schärften und Fässer stapelten. Kinder rannten kreischend umher, ihre Gesichter schmutzig, aber ihre Augen voller Leben. Hühner gackerten und flatterten, Schafe blökten in der Nähe, und irgendwo hörte sie das rhythmische Hämmern eines Schmiedes.

Hanna blinzelte, unfähig, den Blick von der geschäftigen Szenerie abzuwenden. Alles wirkte so real, so greifbar, dass es ihr den Atem raubte. Sie zwang sich, die Umgebung zu analysieren, wie sie es als Archäologin gewohnt war – rational, mit einem scharfen Blick für Details. Die grob behauenen Balken der Langhäuser, die kunstvoll geschnitzten Türen mit ihren Tiermotiven und die sorgfältig arrangierten Steinzäune erzählten Geschichten von einem Leben, das zugleich rau und voller Bedeutung war. Doch wie hatte sie es von der akademischen Distanz ihrer Studien hierher geschafft? Der Gedanke, dass dies ihre neue Realität sein könnte, ließ ihr Magen verkrampfen.

Freydis ging neben ihr her, ihre Bewegungen fließend wie die eines Raubtiers. Ihre Augen glitten ununterbrochen über die Menschen, hielten hier und da inne, als suchte sie nach einem Zeichen von Gefahr oder Verrat. Hanna spürte die skeptischen Blicke der Dorfbewohner, die sie trafen, während sie vorbeiging. Einige nickten ihr respektvoll zu – doch in ihren Augen lag etwas anderes. Erwartung? Zweifel? Angst?

„Du bist die Heilerin, die sie bewundern und fürchten“, sagte Freydis unvermittelt. Ihre Stimme war leise, aber mit einer Schärfe, die nicht überhört werden konnte. „Vergiss das nicht, wenn du hier überleben willst.“

Hanna zog scharf die Luft ein und suchte nach einer Antwort, doch bevor sie etwas sagen konnte, schob sich eine ältere Frau hastig auf sie zu. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, die von Staub und Schweiß glänzten, und ihre zitternden Hände waren mit Erde bedeckt.

„Siv! Bitte, du musst kommen!“ rief sie, ihre Stimme bebend vor Dringlichkeit. „Mein Sohn… er ist krank. Es wird schlimmer. Bitte, hilf uns!“

Hanna erstarrte, und die Worte sickerten nur langsam in ihr Bewusstsein. Krank? Sohn? Heilen? Panik stieg in ihr auf, heiß und lähmend. Wie sollte sie helfen? Ihr ganzes medizinisches Wissen stammte aus Büchern und Vorträgen, nicht aus der Praxis. Sie war Archäologin, keine Ärztin.

Freydis trat näher und fixierte Hanna mit ihren Augen. „Das ist, was du tust“, sagte sie ruhig, aber ihre Stimme trug einen scharfen Unterton. „Oder hast du das auch vergessen?“

Hanna spürte das Gewicht der Blicke der beiden Frauen auf sich. Freydis’ fordernder Blick und die flehenden Augen der Großmutter drängten sie zu einer Entscheidung. Sie atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe und nickte schließlich.

„Ich komme“, sagte sie, wobei ihre Stimme fester klang, als sie sich fühlte.

Die ältere Frau führte sie hastig zu einem der Langhäuser am Rand des Platzes, während Freydis dicht hinter Hanna herging.

Das Innere des Hauses war stickig und dunkel. Ein schwaches Feuer flackerte in der Mitte und beleuchtete die Umrisse eines kleinen Jungen auf einer Strohliege. Sein Körper war dünn und abgemagert, seine Haut unnatürlich blass, und sein Atem kam in keuchenden, unregelmäßigen Stößen. Neben ihm kniete eine jüngere Frau – vermutlich seine Mutter – mit verweinten Augen, die von Hoffen und Bangen erfüllt waren.

Hanna hielt inne, als sie näher trat. Ihr Herz raste, und jede Faser ihrer modernen Identität schrie, dass sie hier fehl am Platz war. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Das war es, was sie konnte: denken, beobachten, lernen.

„Welche Symptome hat er gehabt?“ fragte sie, bemüht, ihre Stimme fest und sachlich klingen zu lassen.

Die ältere Frau nickte schnell. „Fieber. Er hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Sein Atem…“ Ihre Stimme brach, und ihre Hände zitterten, als sie sie vor ihrem Mund verschränkte.

Hanna kniete sich hin und betrachtete den Jungen genauer. Sein Gesicht war schweißnass, und als sie seine Stirn berührte, war die Hitze beinahe erschreckend. Sie öffnete sanft seinen Mund, bemerkte die Trockenheit seiner Zunge und die Rötung seiner Kehle. Eine Infektion. Aber welche? Sie wünschte, sie hätte ein modernes Thermometer oder Antibiotika, doch hier gab es nur die einfachsten Mittel.

Hanna schloss die Augen und überlegte fieberhaft. Sie erinnerte sich an ihre Studien über die medizinischen Praktiken der Wikingerzeit: Kräuter, Umschläge, Rituale. Sie musste improvisieren – mit dem, was hier verfügbar war.

„Ich brauche heißes Wasser, saubere Tücher und… Salbei, wenn ihr welchen habt“, sagte sie schließlich und richtete sich auf. Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte.

Die Mutter sprang sofort auf, um die Anweisungen auszuführen. Freydis, die in der Tür stand und alles beobachtete, hob eine Augenbraue. „Bist du sicher, Siv? Du wirkst… anders.“

„Ich weiß genug“, erwiderte Hanna, wobei sie den Zweifel in ihrer Stimme nur mühsam unterdrückte.

Als die Utensilien gebracht wurden, begann Hanna zu arbeiten. Sie versuchte, den Jungen zu kühlen, während sie einen einfachen Tee aus den Kräutern zubereitete, der seine Kehle beruhigen und die Symptome lindern sollte. Mit jedem Schritt fühlte sie, wie ihre Panik von einer seltsamen Mischung aus Instinkt und Wissen verdrängt wurde. Es war, als ob ihre Hände wussten, was sie tun mussten, auch wenn ihr Verstand sich noch widersetzte.

Die Stunden schlichen dahin, während Hanna am Bett des Jungen wachte. Die ältere Frau knetete nervös ihre Hände, die Mutter hielt die des Kindes, und Freydis lehnte stumm an der Wand, ihre Augen scharf auf Hanna gerichtet. Der Junge begann schließlich, gleichmäßiger zu atmen, und seine Haut fühlte sich etwas kühler an. Ein erkennbarer Hauch von Erleichterung breitete sich im Raum aus.

„Er wird es schaffen“, sagte Hanna leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen.

Die Mutter begann zu weinen, umklammerte Hannas Hände und murmelte immer wieder Worte des Dankes. Hanna fühlte sich unbehaglich unter dieser plötzlichen Verehrung, doch sie zwang sich, zu lächeln.

Als sie aus dem Langhaus trat, strömte die frische Luft auf sie ein, und die Geräusche des Dorfes drangen in ihre Ohren. Doch die Erschöpfung lastete schwer auf ihr, und ihre Knie fühlten sich weich an.

„Du hast sie beeindruckt“, sagte Freydis, die dicht hinter ihr folgte. „Aber nicht alle werden so leicht zu überzeugen sein.“

Hanna drehte sich zu ihr um und hielt ihrem Blick stand. „Ich bin nicht hier, um zu beeindrucken. Ich versuche zu überleben.“

Freydis runzelte die Stirn, schien etwas erwidern zu wollen, doch ihre Aufmerksamkeit wurde woandershin gezogen. Ihre Augen verengten sich, und sie nickte in Richtung des Platzes. „Ragnar.“

Hannas Blick folgte ihrem. Ragnar Schwarzwolf. Groß, muskulös und mit einer Präsenz, die die Luft um ihn herum zu verändern schien. Er sprach mit ein paar Männern am Rand des Platzes, doch seine eisgrauen Augen wanderten plötzlich zu ihr. Sein Blick war durchdringend, analysierend, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte – eine Mischung aus Neugier, Misstrauen und etwas anderem, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

Er kam näher, langsam, wie ein Jäger, der seine Beute einschätzte. Hanna hielt seinem Blick stand, obwohl ihr Instinkt ihr sagte, wegzusehen.

„Siv“, sagte er schließlich, seine Stimme tief und rau. „Man sagt, du hast wieder ein Leben gerettet.“

Es war keine Frage. Seine Worte trugen Gewicht, und Hanna spürte die unausgesprochene Bedeutung dahinter. Sie nickte leicht, wagte es aber nicht, etwas zu sagen.

„Gut“, sagte er nach einem Moment und drehte sich um, bevor er wieder davon schritt.

Hanna atmete aus, ohne bemerkt zu haben, dass sie die Luft angehalten hatte. Freydis lachte leise.

„Er beobachtet dich“, sagte sie, ein Hauch von Amüsement in ihrer Stimme. „Pass auf, Siv. In einer Welt wie dieser ist es besser, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht einmal von Männern wie Ragnar.“

Hanna spürte eine neue Schwere in ihrer Brust, als sie in den Schatten des Langhauses zurückkehrte. Die Welt um sie herum wurde immer gefährlicher, immer komplexer. Und doch schimmerte eine leise Hoffnung in ihr. Sie hatte heute bewiesen, dass sie nicht völlig hilflos war.

Aber das war nur der Anfang.