Kapitel 3 — Unbekannte Bedrohungen
Hannah
Hannah stand vor ihrer Wohnungstür und starrte entsetzt auf das Chaos, das sich vor ihr ausbreitete. Die Tür war aufgebrochen und hing schief in den Angeln, als hätte jemand sie mit roher Gewalt aus der Fassung reißen wollen. Holzsplitter bedeckten den Boden, und der kalte Luftzug aus dem Inneren ließ ein Frösteln durch ihren Körper laufen. Ein beklemmendes Gefühl kroch in ihr hoch – ein Mix aus Wut und einer lähmenden Angst, die sie kaum unter Kontrolle halten konnte.
Das war ihr Zuhause. Ihr sicherer Ort. Ihr Rückzugsort. Und jetzt war dieser Ort entweiht, seine Schutzfunktion zerstört. Doch etwas in ihr weigerte sich, einfach wegzulaufen. Sie wusste, dass es gefährlich war, jetzt hier zu sein, aber diese Gefahr ließ sie nur deutlicher spüren, wie viel auf dem Spiel stand. Sie griff in ihre Tasche, zog eine kleine Taschenlampe hervor und schaltete sie an. Mit einem kurzen Atemzug und einem klaren Ziel vor Augen trat sie über die Schwelle.
Ihre Wohnung war ein einziges Chaos. Bücher, Papiere und persönliche Gegenstände waren achtlos auf dem Boden verstreut, Schubladen herausgerissen, Möbel verschoben. Sogar ihre sorgfältig organisierten Ordner mit Arbeitspapieren waren auf den Boden geworfen worden – als hätten die Eindringlinge gezielt nach etwas gesucht. Ihr Schreibtischstuhl war zur Seite gekippt, das Kabel des Monitors baumelte über die Tischkante. Der Raum roch nach abgestandenem Rauch und einer metallischen Note, die Hannah auf Anhieb nicht einordnen konnte.
Ihre Augen suchten sofort die Stelle, an der sie den USB-Stick versteckt hatte. Das lose Dielenbrett in der Ecke ihres Schlafzimmers schien unberührt. Für einen winzigen Moment verspürte sie Erleichterung – doch diese wich augenblicklich einer neuen Welle von Panik, als sie die leere Stelle unter ihrem Schreibtisch bemerkte. Die Backup-Festplatten waren weg.
Ein Schauer durchzog sie. Diese Festplatten waren nicht nur Sicherheitskopien – sie waren ihre Lebensversicherung. Ohne sie war ihre einzige Kopie der „Sigma_01“-Datei auf dem USB-Stick. Und wenn dieser in die Hände der falschen Leute fiel, wäre sie erledigt. Eine unbarmherzige Klarheit setzte ein: Sie hatte keine Zeit, um zu trauern oder nachzudenken. Sie musste handeln.
Hannah tastete nach ihrem Handy und wählte Lisas Nummer. Ihre Finger zitterten, während sie die Tasten berührte. Lisa war ihre Mitbewohnerin und Freundin, und auch wenn sie selten zu Hause war, konnte Hannah es nicht riskieren, dass Lisa in diese Gefahr geriet.
Nach zweimaligem Klingeln nahm Lisa ab. „Hannah? Was ist los? Es ist spät.“
„Lisa, hör mir zu.“ Hannahs Stimme war erstickt vor Anspannung. „Komm nicht nach Hause. Auf keinen Fall. Es ist gefährlich. Ich erklär dir später alles, okay? Aber ich brauche dein Versprechen.“
„Was? Warte... gefährlich? Was ist passiert?“ Lisas Stimme klang plötzlich alarmiert. „Bist du okay? Wo bist du?“
„Bitte, Lisa“, unterbrach Hannah sie. „Geh einfach irgendwo hin, wo du sicher bist. Zu deiner Schwester oder so. Ich ruf dich an, wenn ich kann, aber komm nicht zurück. Versprich es mir!“
„Okay, ich geh zu ihr. Aber verdammt, Hannah, solltest du nicht—“
Hannah legte auf. Sie konnte es sich nicht leisten, die Unterhaltung fortzusetzen. Ihre Gedanken rasten. Sie war nicht die Einzige, die in Gefahr war, aber wenn Lisa sich in Sicherheit brachte, war das ein Problem weniger.
Plötzlich ertönte ein Geräusch aus dem Flur – ein leises Knarren, gefolgt von gedämpften Schritten. Hannah erstarrte. Sie schaltete instinktiv die Taschenlampe aus und schlüpfte hinter das Sofa, das trotz der Verwüstung noch ein halbwegs brauchbares Versteck bot. Ihr Atem war flach, ihre Sinne geschärft. Ihre Finger tasteten in der Dunkelheit nach etwas, das sie zur Verteidigung nutzen konnte, und fanden schließlich ein abgebrochenes Tischbein. Sie umklammerte es mit zittrigen Händen, während sie die drohenden Schritte lauschte.
Die Schritte wurden lauter. Sie näherten sich. Die Person blieb direkt vor der Wohnungstür stehen. Der Lichtschein aus dem Flur warf einen bedrohlichen Schatten in die Wohnung. Hannahs Herz hämmerte in ihrem Brustkorb, so laut, dass sie fürchtete, die Eindringlinge könnten es hören. Dann hörte sie die leise Stimme eines Funkgeräts: „Kein Zeichen von ihr. Die Wohnung wurde durchsucht.“
Ein eiskalter Schreck durchfuhr sie. Es waren also mehrere.
Ihre Gedanken rasten. Wer waren diese Leute? Warum suchten sie nach ihr? Die Antwort war klar, aber der Gedanke, dass sie bereits so nahe waren, brachte Panik mit sich. Sie durfte nicht entdeckt werden. Wenn sie in die Hände dieser Leute fiel, wäre es vorbei.
Ein Schatten bewegte sich durch das Wohnzimmer, und Hannah wagte einen flüchtigen Blick. Der Mann im Anzug wirkte wie ein kalter, berechnender Profi. Keine Spur von Nervosität. Er schien genau zu wissen, was er tat. Sein Funkgerät knackte erneut, und er trat noch weiter in die Wohnung ein. Hannah nutzte den Moment, um sich leise und vorsichtig auf Händen und Knien zu bewegen. Zentimeter für Zentimeter kroch sie in Richtung ihres Schlafzimmers – die einzige Chance auf einen Fluchtweg.
Als sie das Schlafzimmer erreichte, schob sie die Tür vorsichtig auf. Das Fenster zur Rückseite des Gebäudes war ihr Ziel. Sie wusste, dass dort eine Feuerleiter war. Wenn sie es schaffte, unbemerkt dorthin zu gelangen, konnte sie entkommen.
Ihre Hände zitterten, als sie das Fenster fast lautlos aufschob. Der Regen prasselte unaufhörlich und durchnässte sie sofort, als sie hinaus kletterte. Kälte kroch in ihre Knochen, aber sie ignorierte sie und packte die rutschigen Metallstreben der Leiter. Sie begann den Abstieg – langsam, bedacht, die Panik wie ein lähmender Druck in ihrem Nacken. Plötzlich hörte sie ein Krachen aus dem Schlafzimmer: Jemand hatte die Tür geöffnet.
Hannahs Herz setzte aus. Sie beschleunigte ihren Abstieg, sprang die letzten Meter und landete unsanft auf dem nassen Asphalt. Sie zögerte nicht eine Sekunde und rannte los. Sie durfte nicht stehen bleiben, durfte nicht zurückblicken. Der Regen, die Dunkelheit und die Gassen der Stadt waren ihre einzigen Verbündeten.
Während sie sich durch die Straßen schlängelte, griff sie erneut nach ihrem Handy und wählte Markus’ Nummer. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er abhob.
„Hannah? Was ist los?“ Seine Stimme klang angespannt, als wüsste er, dass etwas nicht stimmte.
„Sie waren in meiner Wohnung, Markus. Sie haben alles durchsucht. Ich glaube, sie... sie suchen mich!“
„Hör zu.“ Markus unterbrach sie, seine Stimme war ruhig, aber drängend. „Komm nicht zu mir. Ich schicke dir eine Adresse. Geh dorthin. Ich komme so schnell ich kann.“
Die Leitung wurde unterbrochen, bevor sie protestieren konnte. Sekunden später vibrierte ihr Handy mit einer Nachricht. Eine Adresse. Nicht weit entfernt. Ohne nachzudenken lief Hannah weiter, ihre Beine bewegten sich wie von selbst, während ihr Verstand fieberhaft arbeitete. Wer waren diese Leute? Wie hatten sie sie gefunden?
Das Lagerhaus war unscheinbar und verfallen. Die Tür war leicht angelehnt, und Hannah schlüpfte hinein. Der Raum war dunkel und roch nach abgestandener Luft. Doch in diesem Moment fühlte sich dieser Ort sicherer an als die Straßen draußen.
Sie sackte an der Wand zusammen, ihr Atem ging keuchend. Kalter Regen tropfte von ihren Haaren. Sie hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde – aber eines wusste sie: Sie würde nicht aufgeben. Sie war noch nicht am Ende.