Kapitel 3 — Flüsternde Schatten der Nacht
Lea Weigelt
Das fahle Licht des Mondes schien durch die dünnen Gardinen ihres Zimmers und tauchte die Wände in ein kühles, silbriges Schimmern. Lea wälzte sich ruhelos in ihrem Bett, ihr Atem ging hastig, als ob sie einem verborgenen Feind entkommen sei. Schweißperlen glitten ihre Schläfen hinab und versickerten auf dem Kissen. Doch sie schlief – oder glaubte es zumindest. Es war ein Schlaf, der nicht von Ruhe, sondern von einem Sog aus Bildern und Stimmen geprägt war, die sie tiefer in die Dunkelheit zogen.
Vor ihrem inneren Auge wuchs der Wald auf, der sie tagsüber schon in seinen Bann gezogen hatte. Doch dieser Wald war anders. Die Bäume ragten wie schwarze Titanen gen Himmel, ihre Äste wanden sich wie Klauen, und zwischen ihren Stämmen schien sich der Schatten zu bewegen, lebendig, atmend. Stimmen flüsterten ihren Namen – erst kaum hörbar, dann immer eindringlicher: „Lea... Lea...“
Sie wandte sich im Traum um, suchte den Ursprung der Stimmen, doch alles, was sie sah, war Bewegung am Rand ihres Blickfelds. Schatten glitten dahin, schemenhafte Figuren, die sich wie ein Teil von ihr anfühlten, und dennoch fremd blieben. Ein kalter Schauer rieselte über ihren Rücken, doch die Angst, die sie spürte, war nicht die Angst vor dem Unbekannten. Es war, als ob diese Schatten etwas von ihr widerspiegelten, etwas, das sie längst vergessen hatte.
Und dann war er da: der Wolf.
Er trat lautlos aus der Dunkelheit hervor, sein schwarzes Fell glänzte im fahlen Mondlicht. Seine Augen – goldene, durchdringende Augen – hielten ihren Blick gefangen. Die Intensität dieses Blicks ließ sie an den Mann aus der Bibliothek denken. Der Wolf stand regungslos, doch es lag eine drängende Erwartung in seiner Haltung, als ob er auf etwas wartete: ein Zeichen, eine Entscheidung, einen Schritt von ihr.
Lea wollte sprechen, wollte die Irrationalität ihres Traums in Worte kleiden, doch ihre Stimme blieb stumm. Die Schatten verstummten, und eine Stille legte sich über den Wald, die tiefer war als jede Dunkelheit. Langsam trat der Wolf näher, seine Bewegungen waren lautlos, geschmeidig und doch von einer Kraft durchdrungen, die sie erschaudern ließ. Als er vor ihr stand, spürte sie keine Angst mehr. Stattdessen überkam sie eine seltsame Wärme, eine Verbindung, die stärker war als jede Erklärung, die sie sich herbeizwingen konnte.
Ein Hauch von Vertrautheit durchströmte sie, als der Wolf direkt vor ihr innehielt. Ihre Hände zuckten, als ob sie ihn berühren wollte, doch bevor sie reagieren konnte, verschwand er. Die Dunkelheit zog sich zusammen, und sie wurde von einer Welle aus Kälte und Einsamkeit erfasst, die sie nach Luft schnappen ließ.
Mit einem Ruck fuhr Lea aus ihrem Schlaf hoch. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich schnell, und ihre Finger suchten instinktiv nach dem Medaillon auf ihrem Nachttisch. Es war da, kühl und schwer, doch als sie es in die Hand nahm, spürte sie ein sanftes Pulsieren – wie ein Herzschlag, der nicht der ihre war.
„Es ist nur ein Traum“, flüsterte sie, doch ihre Worte klangen leer in der stillen Dunkelheit ihres Zimmers. Draußen heulte ein Wolf, ein eindringliches, einsames Heulen, das durch die Nacht schnitt. Es hallte in ihr nach, und sie konnte sich nicht davon überzeugen, dass es nichts zu bedeuten hatte.
Der Morgen kam mit einer dichten Schicht aus Nebel, die sich wie ein bleierner Schleier über die Welt legte. Die Kälte, die durch die Fensterläden sickerte, schien jede Wärme aus ihrem Körper zu ziehen. In der kleinen Stube der Pension saß Lea vor einer Tasse dampfenden Tees und starrte ins Leere. Die Wirtin, die ihr Frühstück gebracht hatte, warf ihr einen flüchtigen Blick zu – einen Blick, der länger verweilte, als es nötig gewesen wäre. Ihr Gesichtsausdruck war undefinierbar, eine Mischung aus Besorgnis und Zurückhaltung, und ihre Hände zögerten einen Moment zu lang, bevor sie die Tasse abstellte.
„Manchmal“, sagte die Wirtin leise, „sollte man die Schatten ruhen lassen, Miss Weigelt.“
Lea wollte nachfragen, doch bevor sie die Worte formen konnte, hatte die Frau den Raum verlassen. Zurück blieb nur die Stille, die das leise Knistern des Kaminfeuers kaum durchbrach.
Die Bilder ihres Traums verfolgten sie immer noch. Der Wolf, die Schatten, die Stimmen – sie fühlten sich nicht wie bloße Hirngespinste an. Ihr rationaler Verstand rang mit der Intensität dessen, was sie erlebt hatte. Und dennoch spürte sie, dass sie Antworten finden musste, Antworten, die irgendwo in den verschlungenen Straßen von Schattenfels verborgen lagen.
Als sie die Pension verließ, umspannte der Nebel die Welt wie eine lebendige Masse. Ihre Schritte hallten hohl auf dem feuchten Kopfsteinpflaster wider, und die Stille, die sie umgab, schien fast greifbar. Ein seltsames Gefühl von Beobachtung kroch ihr über den Nacken, und sie drehte sich ruckartig um. Doch da war nichts – nur die flüchtige Bewegung eines Fensterladens, der im Wind klapperte.
Plötzlich huschte etwas Dunkles am Rand ihres Sichtfelds vorbei. Sie blieb stehen, ihre Augen suchten die Umgebung ab, doch der Nebel verschluckte jedes Detail. Sie schlang die Arme um sich, um der Kälte zu trotzen, und ging weiter.
Vor der Bibliothek blieb sie stehen. Das Gebäude wirkte noch düsterer als am Tag zuvor, und die Worte des Bibliothekars hallten in ihrem Kopf wider: „Die Schatten haben Gäste eingeladen.“ Was hatte er gemeint?
Da sah sie ihn wieder. Den Mann mit den goldenen Augen. Er stand reglos am Ende der Straße, halb verborgen im Nebel. Sein Blick durchbohrte sie, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ihr Herz schlug schneller, und ohne nachzudenken, rief sie: „Warten Sie! Wer sind Sie?“
Er drehte sich um, aber statt zu antworten, verschwand er in einer schmalen Seitengasse. Lea zögerte nur einen Augenblick, bevor sie ihm folgte. Ihre Schritte wurden schneller, das Adrenalin trieb sie voran, während der Nebel immer dichter wurde. Es fühlte sich an, als würde sie nicht nur durch die Straßen, sondern durch eine unsichtbare Grenze schreiten, die sie von der Wirklichkeit trennte.
Die Gasse führte sie zu einer kleinen Lichtung, einem Ort, der in keiner Karte verzeichnet war. Der Nebel hing schwer und unbeweglich in der Luft, und ihre Haut prickelte, als ob eine unsichtbare Kraft den Raum durchzog. In der Mitte der Lichtung lag etwas auf dem Boden.
Ein schwarzer Wolfshaarbüschel. Er wirkte fehl am Platz und doch bedeutungsvoll, wie ein verlorenes Fragment, das auf sie gewartet hatte. Lea kniete sich hin und berührte ihn vorsichtig. Die Härchen waren weich wie Seide, doch ein seltsamer Geruch stieg von ihnen auf – eine Mischung aus feuchter Erde und kalter Nachtluft. Als sie ihn in der Hand hielt, durchzog sie eine Welle von Wärme, die gleichzeitig beruhigend und beunruhigend war.
„Was soll das alles bedeuten?“, murmelte sie, ihre Stimme ein schwacher Laut in der dichten Stille.
Ein leises Knacken ließ sie aufschrecken. Sie wirbelte herum, doch die Lichtung war leer. Ihre Atmung ging schneller, und das Gefühl, dass der Ort lebendig war, wurde unerträglich. Sie zwang ihre Beine, sich zu bewegen, und eilte zurück zur Pension.
Zurück in ihrem Zimmer setzte sie sich an den kleinen Tisch. Das Buch aus der Bibliothek lag vor ihr, und ihre Finger fuhren mechanisch über die Gravuren auf ihrem Medaillon. Die Worte, die sie gelesen hatte, hallten in ihrem Kopf wider: „Sie ist sein Untergang. Sie ist seine Rettung.“
Wer war dieser Mann? Was verband sie mit dem Wolf? Und warum fühlte es sich an, als ob all dies von Anfang an unvermeidbar gewesen wäre?
Ihr Blick wanderte zum Fenster. Der Nebel hatte sich gelichtet, und die Sterne funkelten wie kleine Leuchtfeuer am Himmel. Lea wusste, dass die Antworten irgendwo in Schattenfels verborgen lagen – in den Wäldern, den Geschichten und vielleicht auch in ihr selbst.
Sie würde die Schatten nicht ignorieren. Sie würde sie zu fassen bekommen und ihnen ihre Geheimnisse entreißen. Und vielleicht würde sie dabei auch die Wahrheit über sich selbst enthüllen.