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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Die Gravuren der Legenden


Lea Weigelt

Das warme Licht des Morgens fiel durch die dünnen Vorhänge und zeichnete flimmernde Muster an die rauen Wände des kleinen Zimmers. Lea blinzelte gegen das Licht, das sie aus einem unruhigen Schlaf weckte. Ihre Träume waren voller Schatten und flüsternder Stimmen gewesen, die wie Fragmente einer fremden Sprache klangen. Doch als sie jetzt wach lag, verblassten die Erinnerungen daran, wie ein Hauch, der durch einen Riss in der Zeit verschwand. Nur das Gefühl von Unruhe blieb zurück, wie ein sanftes Ziehen tief in ihrem Inneren.

Das Medaillon lag starr auf dem Nachttisch, sein kühler metallischer Glanz schien mit dem ersten Tageslicht zu verschmelzen. Es hatte sich verändert, da war sie sich sicher. Vielleicht war es die Gravur, die schärfer wirkte, oder das Licht, das anders auf die Oberfläche fiel. Sie konnte es nicht genau sagen, aber das Gefühl, dass dieses einfache Schmuckstück schwerer wog, als es sollte, ließ sie nicht los. Mit einem leisen Seufzen griff sie danach und ließ die kühle Oberfläche in ihre Hand gleiten. Es fühlte sich lebendig an, wie ein Herz, das in tiefer Stille schlug.

Nach einem hastigen Frühstück, das aus einem Stück Brot und einer Tasse Tee bestand, verabschiedete sich Lea von der Wirtin. Die ältere Frau mit den scharfen Augen war höflich, doch ihre Aufmerksamkeit lingerte einen Moment zu lange auf dem Medaillon um Leas Hals, bevor sie die Tür mit einem knarrenden Geräusch schloss. Lea spürte das Gewicht des Blickes noch in ihrem Rücken, als sie die gepflasterten Straßen des Dorfes entlangging.

Im Morgenlicht verlor Schattenfels nichts von seiner düsteren Atmosphäre. Die Fachwerkhäuser wirkten noch schiefer, als ob sie sich vor etwas Unsichtbarem wegducken würden. Die Fensterläden waren fest geschlossen, wie Augen, die keine Fremden ansehen wollten. Doch Lea hatte keine Zeit, sich von der seltsamen Stimmung ablenken zu lassen. Der Tag versprach Antworten, und sie würde sie finden – oder zumindest jenen Spuren folgen, die ihr das Medaillon und die Legenden von Schattenfels hinterlassen hatten.

Die alte Bibliothek des Dorfes stand am Ende einer engen Gasse. Das Gebäude wirkte wie eine Mischung aus Schule und Kapelle mit seinen schlichten Steinwänden und kleinen Fenstern, die kaum Licht durchließen. Die schweren Holztüren gaben unter ihrem Druck nach und öffneten sich knarrend, als ob das Gebäude ihre Ankunft gespürt hätte. Der Innenraum roch nach altem Papier, trockener Tinte und der feuchten, kalten Luft, die durch unsichtbare Ritzen sickerte.

Hinter einem massiven Eichentisch saß ein älterer Mann mit schütterem Haar und einem Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt schien. Seine Augen blieben auf das Buch vor ihm gerichtet, als wäre Lea nicht da.

„Guten Morgen“, sagte sie höflich, doch ihre Stimme hallte in der Stille der Bibliothek wider, als hätte sie eine Grenze überschritten.

„Morgen“, murmelte der Mann, ohne aufzusehen.

Lea zögerte, dann tauchte sie in die Reihen der Regale ein. Die Bücher waren alt und zerbrechlich, ihre Einbände von der Zeit verschlissen, manche mit Notizen versehen, die wie Spuren längst vergessener Gedanken wirkten. Sie strichen mit ihren Fingern über die Buchrücken, bis ein bestimmtes Symbol ihre Aufmerksamkeit erregte: ein Kreis, in dessen Mitte eine Frau und ein Wolf in einer seltsamen Umarmung dargestellt waren. Es erinnerte sie sofort an die Gravuren auf ihrem Medaillon.

Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Buch aus dem Regal zog. Der Einband fühlte sich rau an, und ein schwaches, kaum wahrnehmbares Kribbeln zog durch ihre Handflächen. Sie schlug es auf und entdeckte kunstvoll gezeichnete Seiten in altdeutscher Schrift. Lea war mit alten Schriften vertraut, doch sie musste sich konzentrieren, um die Worte zu entziffern.

Die Gravuren erzählten von einer Legende: einer Frau, die das Blut der Hexen in sich trug, und einem Wolf, der sowohl ihr Verderben als auch ihre Rettung bedeutete. Ein Satz stach ihr besonders ins Auge: „Sie ist sein Untergang. Sie ist seine Rettung.“

Lea runzelte die Stirn und fuhr mit den Fingerspitzen über die Illustration. Die Zeichnung ähnelte seltsam ihrem Traum – der dunkle Wald, die Schatten, die ineinanderfließenden Formen. Ihre Gedanken wanderten zu den Geschichten ihrer Mutter, den Andeutungen von alten Flüchen und magischen Bindungen. Warum fühlte sich dieser Moment so vertraut an?

Ein Gefühl von Anspannung kroch ihren Rücken hinauf, als sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Sie hob den Kopf und sah eine Gestalt am Ende des Ganges. Ein Mann, groß und in dunkler Kleidung, die ihn fast mit den Schatten verschmelzen ließ. Doch es waren seine Augen, die sie fesselten – goldene, leuchtende Augen, die sie durchdringend musterten.

Leas Atem stockte. Sie wollte etwas sagen, doch bevor sie ihre Stimme finden konnte, drehte sich der Mann um und ging. Ihr Blick fiel auf den Boden. Dort, wo er gestanden hatte, war der Abdruck eines schweren Stiefels im Staub zu sehen.

Ohne nachzudenken ließ sie das Buch sinken und eilte ihm hinterher. Die Regale schienen sich zu verschieben, die Gänge endlos und verwirrend. Sie folgte der Spur seiner Präsenz, die wie ein flüchtiges Echo in der Luft lag. Doch als sie die Ecke erreichte, war er verschwunden. Nur die Stille der Bibliothek blieb zurück, wie ein schweres Gewicht auf ihren Schultern.

Der Bibliothekar tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf. Sein blasses Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen hatten etwas Wissendes. „Kann ich Ihnen helfen, Fräulein?“

Lea räusperte sich und bemühte sich um einen neutralen Ton. „Ich… Ich habe eben jemanden gesehen. Einen Mann, knapp hier in der Nähe. Wissen Sie, wer das sein könnte?“

Der Blick des Mannes blieb unergründlich. „Diese Bibliothek hat nur selten Besucher. Es sei denn, die Schatten haben Gäste eingeladen.“ Seine Worte ließen einen unheimlichen Unterton in der Luft hängen, der ihr nicht entging. „Das Buch, das Sie gefunden haben, hat viele Herzen in Dunkelheit geführt. Vielleicht sollten Sie vorsichtig sein, was Sie suchen.“

Lea spürte erneut dieses Gefühl, dass Worte hier mehr zu bedeuten schienen, als sie oberflächlich erkennen konnte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie nickte knapp und kehrte zu ihrem Platz zurück.

Das Buch mit den Gravuren lag noch dort. Sie griff es und hielt es fest in ihren Händen, bevor sie sich entschied, die Bibliothek zu verlassen. Der Mann mit den goldenen Augen ließ sie nicht los – er war echt, und doch schien er an etwas gebunden, das sie noch nicht verstand.

Zurück in der Pension legte Lea das Buch auf den Tisch neben ihrem Bett. Sie fühlte sich erschöpft, aber ihre Gedanken wirbelten. Das Medaillon pulsierte leicht in ihrer Hand – oder war das nur der eigene Schlag ihres Herzens? Sie wusste, dass sie dem, was sie entdeckt hatte, nachgehen musste. Etwas in Schattenfels wartete auf sie. Und sie konnte nicht mehr leugnen, dass ihr Verstand allein dafür nicht ausreichen würde.