Kapitel 3 — Schattenhafte Begegnung
Liv Sommer
Die Bibliothek von Nachtring war eine stille Zuflucht, ein Ort, der die Zeit anzuhalten schien. Die hohen Holzregale, dunkel und von den Jahrzehnten poliert, erhoben sich wie ehrwürdige Wächter. Der Duft von Staub und vergilbtem Papier erfüllte die kühle Luft. Durch die schmalen, hohen Fenster fiel gedämpftes Licht, das dem Raum eine sakrale Atmosphäre verlieh, während gedämpfte Stimmen wie Flüstern zwischen den Schatten schwebten.
Liv zog ihren Mantel enger, obwohl die Kälte, die sie spürte, nicht vom Wetter stammte. Es war die Nachwirkung ihres Traums – der leuchtende Halbmond, die intakte Kapelle – eine Szene, die sich in ihre Gedanken gebrannt hatte. Es hatte sich so real angefühlt, so greifbar, dass sie nicht wusste, ob es wirklich nur ein Traum gewesen war.
Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Bibliothek, vorbei an Regalen, die mit Büchern über Geschichte und Mythologie gefüllt waren. Sie blieb vor dem Abschnitt „Regionalgeschichte“ stehen, wo die Schilder „Mythen und Volksmärchen“ prangten. Ihre Finger strichen über die Rücken der Bücher, bis sie eine Auswahl getroffen hatte. Mit einem Stapel in den Armen setzte sie sich an einen Tisch in einer abgelegenen Ecke.
Das erste Buch, das sie aufschlug, war mit Illustrationen versehen, die in ihrer Feinheit fast magisch wirkten. Die Seiten erzählten von Ritualen, die den Mond verehrten, und von Orten, die als Tore zu anderen Welten beschrieben wurden. Meist waren es verlassene Ruinen oder tiefe Wälder, wo die Grenze zwischen den Welten dünn war. Livs Herz schlug schneller. Die Beschreibungen erinnerten sie an die Kapelle und an das unerklärliche Prickeln ihres Muttermals.
Doch es waren nur Geschichten. Oder?
Die Stille um sie herum fühlte sich plötzlich schwerer an, dichter. Es war ein kaum wahrnehmbares Gefühl, das ihre Nackenhaare aufstellte. Liv spürte, bevor sie es sah, dass sie beobachtet wurde. Langsam hob sie den Kopf, als sich eine Bewegung hinter den Regalen abzeichnete.
Ein Mann stand dort, halb verborgen im Schatten. Groß, mit einer unbestreitbaren Präsenz, die die stille Bibliothek zu dominieren schien. Sein schwarzes Haar war unordentlich, und er trug eine abgenutzte Lederjacke, die ebenso rau wirkte wie sein Gesichtsausdruck. Aber es waren seine Augen, die Liv den Atem stocken ließen – graue, silbrig leuchtende Augen, die wie ein Sturm wirkten, eingefroren hinter einer trügerischen Ruhe.
Ihr Herz schlug schneller, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen.
„Vielleicht“, sagte er, und seine Stimme war genauso tief und rau, wie sie ihn sich vorgestellt hätte. Sie vibrierte in der Stille. Er trat näher, sein Blick fixierte sie mit einer Intensität, die sie nervös machte.
„Sie interessieren sich für die Mythen des Schwarzwalds“, stellte er fest und deutete auf die Bücher, die vor ihr lagen.
Liv nickte langsam. „Ja, ich recherchiere für ein Projekt“, sagte sie, ihre Worte gewählt, um so wenig wie möglich preiszugeben.
Ein leises, spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Ein Projekt“, wiederholte er, als würde er das Wort kosten. „Manche Geschichten sind gefährlicher, als sie scheinen.“
„Was meinen Sie?“ Ihre Nervosität wich einem Hauch von Ärger.
„Manche Wahrheiten sind wie Türen“, sagte er kryptisch. „Einmal geöffnet, können Sie nicht mehr geschlossen werden.“
Livs Finger umklammerten unbewusst die Kante des Tisches. „Wer sind Sie?“, fragte sie schließlich.
Er zögerte einen Moment, als würde er abwägen, wie viel er preisgeben wollte. „Mein Name ist Kael“, sagte er schließlich. „Und ich bin hier, um Sie zu warnen.“
Livs Kehle wurde trocken. „Warnen? Wovor?“
„Vor dem, was Sie suchen“, sagte er, sein Tonfall eine Mischung aus Ernst und Bedauern.
Sie richtete sich auf, versuchte, ihre Unsicherheit durch eine gerade Haltung zu verbergen. „Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie wollen, aber ich brauche keine kryptischen Warnungen. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es.“
Kael neigte den Kopf, und für einen Moment glaubte Liv, einen Schatten von Zögern in seinen Augen zu sehen. „Die Wahrheit ist ein Schlüssel“, sagte er schließlich, seine Stimme tiefer. „Ein Schlüssel, der Türen öffnet, die besser verschlossen bleiben.“
„Und woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte sie scharf.
Kaels Miene veränderte sich kaum, doch etwas in seinen Augen wurde weicher. „Es gibt vieles, das ich über Sie weiß, Liv. Mehr, als Sie sich vorstellen können.“
Ihre Brust zog sich zusammen, eine Mischung aus Angst und Wut. „Wenn Sie mich kennen, dann sagen Sie mir, was Sie wissen!“, forderte sie.
Er machte einen Schritt näher, und obwohl er sie nicht berührte, war seine Präsenz überwältigend. „Manchmal sind Antworten ein Fluch“, sagte er leise, bevor er sich abrupt abwandte.
„Warten Sie!“, rief Liv, sprang auf und eilte ihm nach. Doch als sie um die Ecke bog, war er verschwunden.
Liv blieb stehen, ihr Atem ging flach. Die Regale waren leer, und kein Laut war zu hören, außer dem gedämpften Rascheln von Seiten in der Ferne. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Mit zittrigen Händen griff sie nach ihrem Notizbuch und schrieb alles auf, was Kael gesagt hatte. Seine Worte hallten in ihr nach, eine Mischung aus Warnung und Rätsel. „Manchmal sind Antworten ein Fluch.“ Hatte er etwas über die Kapelle gewusst? Über das Symbol, das sie entdeckt hatte?
Ihr Blick fiel auf die Skizze des Halbmonds in ihrem Notizbuch. Ein seltsames Gefühl durchströmte sie, ein unaufhaltsamer Drang, die Wahrheit zu finden – und die Gewissheit, dass sie Kael wiedersehen würde.
Als sie die Bücher schloss und ihre Sachen zusammenpackte, hatte sich der Himmel draußen verdunkelt. Ein kalter Wind zerrte an ihrem Mantel, als sie zum Auto ging. Und wieder war da dieses Gefühl – das prickelnde, allgegenwärtige Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie wirbelte herum, ihre Augen suchten die Schatten zwischen den Bäumen. Doch da war niemand.
In der Ferne, verborgen zwischen den reglosen Silhouetten der Bäume, blitzten graue Augen auf. Sie beobachteten sie noch einen Moment, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden.