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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Schatten über dem Hexenberg


Lea Silverthorne

Tief im Bauch des Hexenbergs vibrierte die Luft mit einer Macht, die mir die Haut kribbeln ließ. Die Wände des Tempels der Kuratoren schimmerten, durchzogen von Runen, die in einem hypnotischen Rhythmus pulsierten – wie ein Herzschlag, der nicht mein eigener war. Jeder Atemzug schmeckte nach Stein und uralter Magie, schwer und scharf, als würde ich die Vergangenheit selbst einatmen. Ich stand allein in der Mitte der Kammer, meine blassen, fast durchscheinenden Finger zitterten, als sie über die Halbmondnarbe an meinem Hals glitten. Sie fühlte sich heiß an unter meiner Berührung, ein stummer Vorwurf meiner Bürde, während das flackernde Licht der Runen Schatten über mein Gesicht warf. Meine Augen, kalt und distanziert, suchten die Dunkelheit ab, als könnten sie die Antworten finden, die ich so verzweifelt brauchte.

Ein plötzliches Beben ließ den Boden unter mir erzittern. Staub rieselte von der Decke, und meine Muskeln spannten sich an, als ich mich gegen die Wand lehnte, um nicht zu stürzen. Die Luft wurde dicker, erdrückend, und dann durchschnitt eine Stimme die Stille – verzerrt, höhnisch, wie ein kalter Hauch, der über meine Haut strich. „Dein Blut kann mich nicht aufhalten, Kuratorin. Die Welten fallen heute.“ Erich Coldfang. Seine Worte hallten durch die Kammer, als kämen sie aus den Schatten selbst, und mein Herz zog sich zusammen. Ich drehte mich um, suchte die Quelle, doch da war nichts – nur Dunkelheit, die sich wie ein lebendiges Ding an mich schmiegte.

Die Narbe an meinem Hals flammte auf, ein brennender Schmerz, der sich in meine Knochen grub. Ich keuchte auf, presste die Hand fester dagegen, als ob ich die Qual eindämmen könnte. Doch es half nichts. Die Welt verschwamm, und eine Vision überlagerte meine Realität. Ich sah mich selbst – oder eine Version von mir, die nicht mehr ich war. Meine Haut war durchscheinend wie gefrorenes Glas, meine Augen leer, kalt wie der Wintermond. Ich stand über einem zerbrochenen Land, eine Mondkönigin, umgeben von Schatten, die sich vor mir verneigten. Doch in mir war nichts mehr. Keine Wärme, kein Leben – nur die eisige Leere, die mich schon jetzt von innen heraus auffraß. Ein Schauer durchfuhr mich, und ich blinzelte heftig, bis die Vision verblasste. Mein Atem ging stoßweise, jeder Zug kälter als der letzte.

„Nicht jetzt, nicht so“, flüsterte ich mir selbst zu, meine Stimme ein zitterndes Echo in der Stille. Die eisige Leere kroch tiefer, ein Gift, das sich in meinen Adern ausbreitete. Ich spürte, wie sie an meiner Menschlichkeit zerrte, wie sie mich aushöhlte, Stück für Stück. Meine Finger krallten sich in die raue Wand, suchten Halt, doch der kalte Stein bot keinen Trost. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf meinen Herzschlag, der zu langsam war, zu schwach. Wie lange noch, bis ich ganz verloren war? Wie lange, bis ich zu dem wurde, was ich in dieser Vision gesehen hatte?

Ein fernes Heulen durchdrang die Dunkelheit, verzweifelt und roh. Kyle. Mein Herz zog sich zusammen, ein schmerzhafter Stich, der die Kälte für einen Moment durchbrach. Er war da draußen, irgendwo, und kämpfte seinen eigenen Kampf. Ich konnte ihn spüren, seine Präsenz wie einen warmen Hauch, der mich rief. Doch die Entfernung zwischen uns fühlte sich unüberwindbar an. Was, wenn ich ihn verlor? Was, wenn das Ritual, das ich vor ihm verbarg, uns für immer trennte? Schuldgefühle nagten an mir, schwerer als die Magie, die in der Luft lag. Ich hätte es ihm sagen sollen. Ich hätte ihm von dem Preis erzählen sollen, den ich vielleicht zahlen musste. Aber wie hätte ich das tun können, wenn ich selbst kaum den Mut hatte, es anzuerkennen?

Meine Augen öffneten sich wieder, fixierten die pulsierenden Runen. Sie waren der Schlüssel, das wusste ich. Irgendwo in diesen uralten Symbolen lag die Antwort auf den Fluch, der meine Familie seit Jahrhunderten verfolgte. Irgendwo hier war die Möglichkeit, Erich zu stoppen, bevor seine Korruption alles zerstörte. Doch jeder Schritt tiefer in den Tempel fühlte sich an wie ein Schritt näher an mein eigenes Ende. Sollte ich weitergehen, tiefer in die Schatten vordringen, wo die Magie noch dichter, noch gefährlicher war? Oder sollte ich warten, auf Kyle hoffen, darauf, dass er mich fand, bevor es zu spät war? Die Zeit tickte, ein unsichtbarer Countdown, der in meinem Kopf dröhnte. Ich hatte keine Wahl, nicht wirklich. Wenn ich stehenblieb, wenn ich zögerte, würde Erich gewinnen. Und das konnte ich nicht zulassen.

Ein weiteres Beben erschütterte den Berg, stärker diesmal, und ich stolperte, fing mich gerade noch ab, bevor ich zu Boden ging. Die Runen flackerten, ihr Licht wurde für einen Moment dunkler, als ob sie die Korruption spürten, die sich wie ein Schatten über den Hexenberg legte. Mein Blick wanderte zur Decke, wo Risse im Stein wie schwarze Adern pulsierten, als ob Erichs Macht selbst in diesen heiligen Ort eindrang. Mein Atem stockte. Er war näher, als ich dachte. Seine Worte hallten wieder in meinem Kopf, ein Flüstern, das meinen Namen trug, so sanft und doch so bedrohlich. „Lea...“

Ich schüttelte den Kopf, versuchte, seine Stimme auszublenden, aber sie haftete an mir, klebrig wie Spinnweben. Meine Hand glitt von der Wand, meine Finger zitterten noch immer, doch ich straffte die Schultern. Die Kälte in mir wuchs, doch ich biss die Zähne zusammen. Ich musste weitergehen. Für mein Rudel. Für Kyle. Für die Chance, dass es einen anderen Weg gab, den Fluch zu brechen, ohne alles zu verlieren, was mich ausmachte. Meine Füße setzten sich in Bewegung, zögerlich, aber entschlossen, als ich mich tiefer in den Tempel wandte, wo die Schatten dichter wurden und die Runen in einem unheimlichen Rhythmus leuchteten.

Ein letzter Blick zurück offenbarte nur Dunkelheit, kein Zeichen von Hilfe, kein Licht, das mich zurückführte. Meine Narbe pulsierte weiter, ein ständiger Schmerz, der mich daran erinnerte, wie wenig Zeit mir blieb. Doch ich konnte nicht umkehren. Nicht jetzt. Meine zitternde Hand legte sich auf eine der pulsierenden Runen, ihr Licht warm und gleichzeitig eisig unter meiner Berührung. Ein Schauer durchfuhr mich, als ob die Magie selbst in mich eindrang, mich prüfte, mich forderte. Ich schloss die Augen, flüsterte ein stummes Gebet an den Mond, dass ich stark genug sein würde, dass ich nicht brechen würde.

Doch bevor ich den nächsten Schritt tun konnte, bebte der Berg erneut, ein tiefes Grollen, das von den Wänden widerhallte. Die Runen flackerten noch unheilvoller, ihr Licht verdunkelte sich, als ob sie etwas spürten, das ich nicht sehen konnte. Und dann, lauter diesmal, durchdrang Erichs Flüstern die Luft, ein Versprechen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Lea... du kannst nicht fliehen.“ Mein Herz hämmerte, während ich in die Dunkelheit starrte, die mich zu verschlingen drohte. War ich noch rechtzeitig? Oder war dies der Moment, in dem alles endete?