reader.chapter — Erwachen im Schatten
Dr. Helena Adler
Ein grelles Licht drang durch die Dunkelheit, als Helena Adler ihre Augen öffnete. Ein Schmerz, dumpf und unerbittlich, pulsierte in ihrem Kopf, als ob etwas Wildes an die Wände ihres Verstands trommelte. Sie blinzelte, versuchte, die Welt um sich herum zu fokussieren, doch alles war ein verzerrtes Mosaik aus Schatten, zerbrochenen Formen und Fragmenten von Erinnerungen, die sie nicht greifen konnte.
Die kalte Härte des Bodens drückte gegen ihren Rücken. Etwas stimmte nicht. Sie atmete ein – die Luft war stickig, schwer, durchdrungen von einem metallischen Geruch. Blut. Ihr Herz raste, und sie zwang sich, sich aufzusetzen.
Glas splitterte unter ihren zitternden Händen, als sie sich abstützte. Ihr Blick fiel auf die Scherben eines Spiegels, verstreut wie die Fragmente eines Alptraums. Ihr eigenes Gesicht starrte ihr aus den zackigen Oberflächen entgegen, verzerrt und fremd.
„Was…?“ Ihre Stimme war heiser, kaum mehr als ein Krächzen, das in der bedrückenden Stille ihrer Wohnung verhallte. Ihre Augen wanderten über den Raum: Bücher lagen verstreut auf dem Boden, Notizen – chaotisch wie nach einem Sturm – bedeckten den Schreibtisch und den Boden. Die sorgfältige Ordnung, die sie einst geschaffen hatte, war einem wilden Chaos gewichen.
Die Schreibtischlampe, die sie immer präzise in einem bestimmten Winkel aufgestellt hatte, lag umgekippt und warf ein schwaches, flackerndes Licht über die Szene. Es wirkte so tröstlich wie eine Kerze in einem Sturm, völlig fehl am Platz inmitten dieser Verwüstung.
Helena hob die Hand zu ihrer Schläfe. Ihre Finger fanden getrocknetes Blut, und ein Zittern durchlief ihren Körper. Ihr Atem beschleunigte sich, ihr Brustkorb hob und senkte sich in panischer Hast. Was war passiert? Warum konnte sie sich an nichts erinnern?
Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Ein Bild – nein, ein Gefühl – blitzte auf. Dunkelheit. Stimmen? Oder nur Wind? Alles entglitt ihr, bevor sie es greifen konnte, und die Leere in ihrem Verstand klaffte wie ein Abgrund.
Ein dumpfes Echo ließ sie innehalten. Schritte. Nein, nicht Schritte – ein Klang, der wie ein ferner Herzschlag durch die Luft drang, pochend, unbestimmt. War es in ihrem Kopf, oder kam es von draußen? Sie zwang sich, den Atem anzuhalten, lauschte angestrengt. Das Summen der Straßenlaterne draußen und das leise Tropfen im Küchenwaschbecken – vertraute Geräusche, die jedoch kaum beruhigend wirkten.
Vorsichtig zog sie sich zum Schreibtisch hoch, ihre Finger umklammerten die vertraute, glatte Kante, während ihr Blick die Zerstörung suchte, die diesen metallischen Geruch erklären konnte. Ihre Augen blieben an der Tür hängen. Um den Griff herum zog sich eine dunkle Spur entlang der Wand, wie eine grob gezeichnete Linie aus Ruß oder…
Sie schluckte schwer und griff nach ihrem Smartphone, das halb unter einem Stapel Notizen begraben lag. Der Bildschirm war gesprungen, und als sie versuchte, es einzuschalten, flackerte es kurz auf, bevor es wieder dunkel wurde. Ihre Finger glitten über das zerbrochene Glas, und ein greller, piepsender Ton ließ sie vor Schreck das Telefon fallen.
Ein plötzlicher Klingelton durchbrach die Stille. Ihr Herz setzte aus. Das Telefon, das eben noch tot in ihren Händen gelegen hatte, vibrierte und leuchtete, als würde es trotzig zum Leben erwachen. Mit zögernder Hand hob sie es auf und drückte den grünen Knopf.
„Dr. Adler“, kam eine verzerrte Stimme durch den Lautsprecher, kalt und gespenstisch. „Sie müssen sofort gehen.“
„Wer…? Wer spricht da?“ Ihre Stimme klang klein, erstickt durch die Enge in ihrer Brust.
„Keine Zeit für Fragen“, fuhr die Stimme fort, leiser, eindringlicher. „Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben.“
„Was? Was habe ich getan?“ Sie klammerte sich an das Telefon, während ihr Verstand versuchte, die Worte zu entschlüsseln.
Ein Knacken in der Leitung ließ sie zusammenzucken, bevor die Stimme weitersprach, schneller und drängender: „Sie haben etwas verändert. Etwas in Ihnen… es macht Sie zur Zielscheibe. Sie müssen die Wohnung verlassen. Jetzt.“
„Wer sind Sie?“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Doch die Leitung war tot.
Das Telefon fiel ihr aus der Hand, und sie starrte auf das leere Display. Ihr Atem ging stoßweise, und ein kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Der metallische Geruch war stärker geworden, als würde er ihre Sinne überfluten. Er kam von ihr.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Es war kein höfliches Klopfen. Es war fordernd, schwer, wie ein Hammerschlag. Panik kroch in ihr hoch, ihre Gedanken schossen in alle Richtungen. Sie griff unbewusst nach der nächsten Scherbe auf dem Boden, die ihre Finger fanden.
„Helena Adler“, sagte eine tiefe, ruhige Männerstimme von der anderen Seite der Tür. Doch etwas daran schnitt wie ein Messer durch die Luft. „Ich weiß, dass Sie dort sind. Öffnen Sie die Tür.“
Sie drückte sich gegen die Wand, die Scherbe fest in ihrer Hand. „W… wer sind Sie?“ brachte sie schließlich hervor.
„Kael“, antwortete er, als ob allein sein Name alles erklären würde. „Ich bin hier, weil Sie mich befreit haben. Und jetzt bin ich hier, um Ihnen zu helfen. Aber nur, wenn Sie mich lassen.“
Sein Name klang dunkel, wie ein Versprechen, das sie nicht verstand. „Ich… ich werde die Tür nicht öffnen!“ Ihre Stimme zitterte, doch sie versuchte, Entschlossenheit hineinzulegen.
„Hören Sie“, sagte er, und seine Stimme wurde kühler, dringlicher. „Wenn Sie die Tür nicht öffnen, werde ich nicht der Einzige sein, der hereinkommt. Und glauben Sie mir, die anderen werden keine Geduld haben.“
Ein Geräusch – Schritte, leise und bedrohlich – in der Ferne des Flurs. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren.
„Ich habe keine Zeit für Diskussionen, Dr. Adler“, sagte er scharf. „Entscheiden Sie sich. Jetzt.“
Ein heftiger Schlag gegen die Tür ließ den Rahmen erzittern. Ein weiterer Knall folgte, und sie stolperte zurück in Richtung Fenster. In der plötzlichen Stille hörte sie seine Stimme, ruhig und doch voller Dringlichkeit: „Bleiben Sie bei mir, wenn Sie leben wollen.“
Die Tür flog auf, die Splitter des Holzrahmens zerstreuten sich über den Boden. Ein Mann trat ein, groß, breit, mit wirrem Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Seine Augen – goldene, glühende Augen – blitzten wie die eines Raubtiers, als sie sie ansahen.
„Bewegen Sie sich“, befahl er, ohne sie aus den Augen zu lassen, während er die Tür hinter sich blockierte. Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu.
Sie zögerte, die Scherbe immer noch in der Hand. Doch der Ausdruck in seinen Augen – ein wildes, ungezähmtes Etwas – ließ sie nicken.
„Gut“, murmelte er und warf ihr einen kurzen, durchdringenden Blick zu. „Keine Fragen. Keine Fehler. Bleiben Sie nah bei mir.“
Mit einem letzten Blick auf das Chaos um sie herum folgte sie ihm hinaus in die Nacht.