reader.chapter — Flucht durch die Nacht
Dr. Helena Adler
Das kalte Mondlicht ergoss sich in die engen Straßen, während Helena mit kaum hörbaren Schritten hinter Kael her hetzte. Der Mann bewegte sich wie ein Schatten, lautlos und zielstrebig, während sie ihm atemlos folgte. Die Scherbe, die sie aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte, drückte sich schmerzhaft in ihre Handfläche. Sie hielt sie fest wie einen Talisman, ein Stück Realität inmitten des Chaos.
Die Geräusche der Stadt waren auf seltsame Weise verzerrt. Das Summen der Neonlichter klang wie das Summen der Maschinen im Labor, und jeder entfernte Klang – ein heiseres Husten, das Klirren von Glas – ließ sie zusammenzucken. Ihre Sinne waren überreizt: Der Geruch von Müll und Diesel war zu stark, die Geräusche zu laut, die Schatten zu lebendig. Es fühlte sich an, als würde die Welt um sie herum pulsieren, als würde sie sich an etwas Neues anpassen, ohne zu verstehen, was. Kaels Gestalt vor ihr – flüssig wie Rauch, schnell und zielgerichtet – war der einzige Fixpunkt in diesem Alptraum.
„Wo... wo führen Sie mich hin?“ Ihre Stimme war rau, die Worte kamen heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte.
„Kein Platz für Fragen“, zischte Kael über die Schulter, ohne langsamer zu werden. „Folge mir, oder stirb.“
Helena biss sich auf die Lippe, um eine Erwiderung zu unterdrücken. Etwas in seiner Stimme ließ keine Diskussion zu, und doch brodelte in ihr der Drang, ihm zu trotzen. Er war so verdammt arrogant, so kalt – aber die Art, wie er sich bewegte, wie sein Blick ständig die Umgebung scannte, machte ihr klar, dass er wusste, was er tat. Und sie hatte keine anderen Optionen.
Sie bogen um eine Ecke in eine schmale Seitenstraße, die von hohen, dunklen Gebäuden gesäumt war. Der überwältigende Geruch von Fäulnis und Öl ließ sie würgen, und eine Ratte huschte unter einem Stapel zerdrückter Kartons hervor. Kael hob die Hand – ein stummer Befehl –, und sie blieb abrupt stehen. Ihr Atem stockte, als sie fast gegen ihn prallte.
„Was ist?“ flüsterte sie, doch Kael antwortete nicht. Er hob den Kopf, als würde er wittern. Seine goldenen Augen blitzten in der Dunkelheit auf, sammelten das schwache Licht wie ein Raubtier. Sein Gesicht war eine starre Maske aus Anspannung, und Helena hatte das unheimliche Gefühl, dass er etwas hörte, das sie nicht wahrnahm.
Dann hörte sie es doch: knirschende Schritte, schwer und rhythmisch, die sich näherten. Ihre Kehle zog sich zusammen. Das Geräusch war kein zufälliges, es war zielgerichtet, methodisch.
„Runter“, befahl Kael plötzlich und drückte sie mit einer Kraft gegen die Wand, die ihr den Atem nahm. Sie wollte protestieren, doch seine Hand auf ihrer Schulter war schwer wie eine Klammer.
„Wenn du überleben willst, hör auf zu zappeln“, sagte er leise, mit einer Intensität, die keinen Widerspruch duldete.
Sie gehorchte, während in ihrem Kopf die Fragen explodierten. Wer waren diese Leute? Was wollte Kael von ihr? Und warum hielten ihre Sinne sie gefangen? Der muffige Geruch des Asphalts, der Druck seiner Hand, das Knistern der Schritte – alles war so präsent, so übermächtig.
Drei Gestalten bewegten sich in ihr Blickfeld, ihre Bewegungen geschmeidig und fast unnatürlich. Schwarze, eng anliegende Kleidung verschmolz mit der Dunkelheit, ihre Gesichter waren unter Masken verborgen. Doch Helena sah die glänzenden Gewehrläufe, die in ihren Händen ruhten, und das metallische Piepen eines Geräts in der Hand eines der Männer.
„Sie haben dich getrackt“, murmelte Kael, seine Stimme ein bedrohliches Grollen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als seine Worte durch sie hindurchfuhren. „Das ist Genos Corp. Die basteln an allem, was sie kriegen können.“
„Was?“ Helena zerrte an seinem Ärmel, zwang ihn, sie anzusehen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Wut in seinen Augen. Oder war es Bedauern?
„Später“, sagte er scharf. „Wenn wir das überleben.“
Kael packte ihre Hand und zog sie mit sich. Seine Bewegungen waren so schnell und geschmeidig, dass es ihr den Atem raubte. Sie liefen, ihre Schritte gedämpft auf dem Asphalt, doch das Piepen des Geräts schien lauter zu werden.
„Hier rein“, befahl Kael und zog sie in eine Seitengasse. Vor ihnen öffnete sich eine Tür, die ins Dunkle führte.
„Was, wenn sie–“
„Jetzt!“ Seine Stimme war rau, beinahe animalisch.
Sie gehorchte, stolperte in den Raum und wurde von dem moderigen Gestank empfangen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit: Ein verlassener Lagerraum mit schmutzigen Regalen und verrosteten Werkzeugen. Kael schob sie hinter ein umgestürztes Regal, bevor er sich aufrichtete.
„Bleib hier“, flüsterte er.
„Was? Was haben Sie vor?“ Sie griff nach seinem Arm, doch er löste sich mit einem geschmeidigen Ruck.
„Sie ablenken.“
Helena wollte protestieren, doch er war schon verschwunden, bevor sie Worte finden konnte. Die Stille des Raums verschlang sie, nur durchbrochen vom Tropfen von Wasser in der Ferne. Sie klammerte sich an die Scherbe in ihrer Hand, doch in ihrem Kopf schrie eine Stimme: Nutzlos. Lächerlich.
Ein dumpfes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Dann ein erstickter Laut, gefolgt von einem kurzen, scharfen Schrei. Helenas Herz raste, so laut, dass sie glaubte, die Verfolger könnten es hören.
Die Tür öffnete sich, und Kael trat ein. Sein Hemd war zerrissen, ein dunkler Fleck zog sich über seine Schulter, doch seine Bewegungen waren unverändert – sicher, ungebrochen.
„Kommen wir weiter, bevor Verstärkung auftaucht“, sagte er, als sei nichts geschehen.
„Was... was sind Sie?“ flüsterte Helena, unfähig, die Worte zurückzuhalten.
Er hielt inne, ein Schatten eines Lächelns erschien auf seinen Lippen, doch es war kalt, ohne jede Wärme. „Etwas, das du dir besser nicht vorstellen willst.“
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Sie folgte ihm, ihre Gedanken ein Chaos aus Furcht, Fragen und... Faszination. Trotz allem, was geschehen war, trotz der Dunkelheit, die ihn umgab, konnte sie nicht leugnen, dass etwas an ihm sie in seinen Bann zog.
Die Nacht verschlang sie beide, während die Sirenen in der Ferne heulten und die Stadt hinter ihnen in der Dunkelheit versank.