reader.chapter — Fragmente der Vergangenheit
Dr. Helena Adler
Das Knistern des USB-Sticks in ihrer zitternden Hand hallte im stillen Raum wider wie der Knall eines Schusses. Helena starrte ihn an, als könnte ihr Blick allein die Wahrheit darin hervorrufen. Kael stand in der Dunkelheit, die Arme verschränkt, sein massiger Schatten immer präsent, immer wachsam. Seine goldenen Augen schienen im schwachen Licht zu glühen.
„Du willst unbedingt wissen, was darauf ist?“ Seine Stimme rollte wie ein entferntes Gewitter durch den kleinen Raum, tief und von einer Schärfe, die sie kaum aushielt.
„Ja“, sagte sie, aber ihre Stimme verriet sie, zitternd und angespannt. „Es könnte… Antworten haben. Es muss Antworten haben.“
Kael schnaubte leise, ein Laut, der irgendwo zwischen abfälligem Lachen und Frustration lag. „Oder mehr Fragen. Und glaub mir, du willst nicht alle Antworten.“
Helena fühlte, wie sich ihre Kiefermuskeln anspannten. Sie hatte keine Zeit für seine kryptischen Warnungen. Ihre Finger griffen hektisch in die Überreste ihrer zerrissenen Tasche, bis sie das kleine, tragbare Gerät hervorholte, das sie früher für ihre Arbeit benutzt hatte. Der Bildschirm flackerte, als sie es einschaltete, tauchte das Zimmer in ein kaltes, bläuliches Licht. Es wirkte, als hätte das Gerät selbst Angst vor dem, was darauf abgespielt werden sollte.
Kael trat näher, sein Schatten überdeckte sie wie eine Bedrohung. Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah, eine unmissverständliche Präsenz. „Wenn du das tust, riskierst du, dass sie uns finden, bevor wir weit genug weg sind.“
„Dann finden sie uns.“ Ihre Stimme war plötzlich hart und entschlossen, obwohl ihre Hand, die den USB-Stick hielt, noch immer leicht zitterte. Sie atmete tief ein, zwang sich zur Ruhe. „Ich muss es wissen.“
Kael blieb still, aber sein Blick ließ sie wissen, dass er nicht überzeugt war.
Sie schob den USB-Stick in das Gerät. Ein elektronisches Summen ertönte, und die Dateien erschienen auf dem Bildschirm – eine Flut aus Tabellen, Diagrammen und Videodateien, die mit kryptischen Bezeichnungen versehen waren. Helenas Herz begann schneller zu schlagen, als ihre Augen über die Liste huschten. Ihre Finger zögerten kurz, bevor sie auf eine Videodatei klickte.
Das Bild formte sich langsam, dann war es da. Es war ein Labor. Ihr Labor.
Helena spürte, wie der Atem aus ihrer Lunge wich. Auf dem Bildschirm erkannte sie sich selbst – makelloser weißer Laborkittel, Haare streng zurückgebunden, der Ausdruck in ihrem Gesicht kühl, fast mechanisch. Es war ihre Stimme, die durch die Lautsprecher des Geräts drang, ruhig und analytisch, wie das Vorlesen eines Berichts.
Die Kamera schwenkte, und plötzlich sah sie ihn.
Kael. Gefesselt auf einer metallenen Liege, seine Kleidung in Fetzen, sein Körper von Schnitt- und Brandwunden übersät. Sein Gesicht war bleich, aber seine goldenen Augen brannten vor Zorn. Er sah aus wie ein Raubtier, in einen viel zu engen Käfig gesperrt, jede Bewegung voller zurückgehaltener Energie.
„Das… das kann nicht…“ Helenas Kehle war trocken, ihre Worte erstickten, bevor sie richtig geformt wurden.
„Was ist?“ Kaels Stimme war schneidend, und sie wusste, dass er nähertrat. Doch sie konnte sich nicht umdrehen, nicht wegsehen.
Die Stimme auf dem Bildschirm sprach weiter, klar und emotionslos: „Subjekt 03 zeigt erhöhte Regenerationsfähigkeit und erstaunliche Widerstandskraft, selbst nach multiplen Tests unter extremen Bedingungen.“
Die Worte trafen sie wie Schläge. Ihre Worte. Sie hörte sie und konnte kaum glauben, dass sie jemals so kalt, so gefühllos geklungen hatte.
„Das bist du.“ Kaels Stimme war gefährlich leise, doch ihre Wirkung war ohrenbetäubend.
„Ich… ich erinnere mich nicht daran.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern, das sie selbst kaum hörte.
Kaels Lippen verzogen sich zu etwas, das weder ein Lächeln noch ein Knurren war. „Das ist keine Antwort.“
„Ich wusste nicht…“ Ihre Stimme brach, und sie schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich wusste nicht, was sie taten. Ich…“
„Hör auf zu lügen!“ Kaels Stimme explodierte im Raum wie ein Donnerschlag. Seine Fäuste waren geballt, seine Kiefermuskeln zuckten, als er die Kontrolle über seine Wut zu behalten versuchte. „Du hast es gesehen. Du hast es selbst gesagt – Fortschritte. Subjekt 03.“
„Ich wusste es nicht!“ Der Schrei entfuhr ihr, bevor sie ihn stoppen konnte. Sie fuhr herum, ihre Augen suchten hektisch nach seinem Gesicht, als könnte sie ihn dazu bringen, ihr zu glauben. „Ich wusste es nicht. Und ich erinnere mich nicht!“
„Das ist keine Entschuldigung.“ Seine Worte waren kalt, unnachgiebig.
„Was willst du, dass ich sage?“ Ihre Stimme war jetzt fast ein Schluchzen, ein verzweifeltes Ringen nach Luft, nach Worten. „Dass ich ein Monster bin? Dass ich Spaß daran hatte, Menschen wie Tiere zu behandeln? Ich weiß nicht, wer ich damals war, aber ich bin es nicht mehr! Ich bin das nicht…“
Kael schwieg, doch sein Blick war unerbittlich.
Die Spannung zwischen ihnen war wie ein unsichtbares Gewicht auf ihren Schultern, drückend und fast unerträglich. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er sie weiter in den Boden zwingen.
„Wir haben keine Zeit dafür“, sagte Kael schließlich. Seine Stimme klang jetzt müde, aber nicht weniger gefährlich. „Sie kommen. Und wenn sie uns hier finden, war das alles umsonst.“
Helena schloss die Augen, versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Er hatte recht. Gottverdammt, er hatte recht.
Mit zitternden Fingern zog sie den USB-Stick aus dem Gerät und steckte ihn zurück in ihre Tasche. Sie spürte das Gewicht, als wäre es das Gewicht ihrer Schuld.
„Lass uns gehen“, murmelte sie, und Kael nickte knapp.
Die Nacht empfing sie mit einem eisigen Wind, der an ihren Haaren zerrte. Kael bewegte sich schnell, lautlos wie ein Schatten, und sie zwang ihre Beine, ihm zu folgen, auch wenn ihre Knie vor Schwäche zitterten.
„Was jetzt?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, während sie hinter ihm her stolperte.
Kael drehte sich kurz um, seine goldenen Augen fesselten ihre für einen Moment. „Jetzt überleben wir.“
Und während sie durch die dunklen Straßen rannten, spürte Helena, dass das, was sie wirklich fürchten musste, näher war, als sie es jemals geahnt hatte.