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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Im Zwiespalt des Herzens


Maren Tjarks

Der Morgen war noch jung, und ein fahler Grauschleier lag wie ein Schleier über der Welt, als Maren den schmalen Pfad zu den Klippen hinaufstieg. Das Meer breitete sich vor ihr aus wie eine unendliche, geheimnisvolle Leere, seine Wellen flüsterten ein Lied aus Locken, Rufen und Drohen. Der Wind zerrte an ihrem groben Wollmantel und brachte die beißende Kälte und den salzigen Geruch mit sich, der wie eine ständige Mahnung in ihrer Nase hing. Sie hatte gehofft, dass der Gang ans Meer ihre Gedanken klären würde. Doch stattdessen schien die Last auf ihren Schultern schwerer zu werden, fast so, als habe sie die Felsen selbst, die sie umgaben, auf sich geladen.

Am Rand der Klippen blieb sie stehen, wo sich eine kleine, geschützte Bucht auftat – der Ort, den ihr Vater als seinen „Rückzugsort“ bezeichnet hatte. Sie erinnerte sich daran, wie er hier saß, die Hände rau von der Arbeit, das Gesicht vom Wind gegerbt, doch mit einem Lächeln, das ihr als Kind immer Halt gegeben hatte. Die Erinnerung schmerzte wie ein scharfer Dolchstoß in ihrer Brust. Sie kniete sich nieder, ließ ihre Finger durch den feuchten Sand gleiten, der noch die eisige Kälte der Nacht in sich trug, und schloss für einen Moment die Augen.

„Vater, was soll ich tun?“ flüsterte sie leise, fast ängstlich, und ihre Stimme wurde vom Wind fortgetragen. Das Tosen der Wellen war die einzige Antwort, die sie erhielt.

Ihr Blick wanderte über den Sand, wo das Licht des frühen Morgens auf glatten, von der Flut zurückgelassenen Steinen schimmerte. Einer davon, rund und flach, erinnerte sie an ein Amulett, das ihr Vater einst getragen hatte – ein einfaches Stück, poliert vom Meer, das er als Zeichen seiner Verbundenheit zum Wasser betrachtete. Mit zitternder Hand hob sie den Stein auf. Er fühlte sich kühl und schwer an, und für einen Augenblick schien er ihr einen Funken Trost zu spenden, als wäre ein Teil ihres Vaters noch immer bei ihr.

„Maren?“

Die Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken, und der Stein fiel zurück in den Sand. Schnell stand sie auf und drehte sich um. Vor ihr stand Folke Janssen, ihr Kindheitsfreund. Sein Gesicht war gerötet von der Morgenkälte, und in seinem breiten Lächeln schimmerte die Spontaneität und Wärme des Jungen durch, mit dem sie einst am Strand gespielt hatte. Doch die Jahre hatten ihn verändert – seine Schultern waren breiter geworden, seine Haltung selbstbewusster, und seine Haut zeugte von der Härte eines Lebens auf See.

„Was machst du hier?“ fragte er, während er näherkam.

Maren wappnete sich innerlich, bereit, ihm auszuweichen, doch die Wärme in seinem Blick ließ sie innehalten. „Ich... wollte nur nachdenken“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leiser, als sie beabsichtigt hatte.

Folke nickte. Er trat neben sie, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick über das raue Meer schweifen. „Manchmal hilft das. Das Meer hat eine eigene Sprache, weißt du? Es zwingt uns, ehrlich zu uns selbst zu sein.“

Maren schwieg, die Worte wie ein bitterer Nachgeschmack auf ihrer Zunge. „Oder es nimmt einem alles, was man liebt“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm.

Folke wandte sich ihr zu, eine Spur von Besorgnis in seinen klaren Augen. „Du fehlst mir, Maren. Früher haben wir alles miteinander geteilt. Jetzt... scheinst du mir so fern.“

Maren blickte weg, ihre Finger zu Fäusten geballt. Die Vergangenheit, die er beschwor, fühlte sich an wie ein ferner Traum, ein Leben, das nicht mehr ihres war. „Es gibt Dinge, über die ich nachdenken muss“, sagte sie schließlich.

Doch Folke ließ nicht locker. „Dann lass mich dir von etwas erzählen“, begann er, und seine Stimme nahm einen begeisterten Unterton an. „Etwas, das dich vielleicht auf andere Gedanken bringt.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, und er fuhr fort, seine Worte mit einem Hauch von Stolz gewählt: „Ich werde bald auf ein Walfängerschiff anheuern. Die ‚Seewolf‘. Hast du davon gehört?“

Der Name ließ ihre Gedanken kurz innehalten – ein Blitz aus Geschichten, die sie über dieses berüchtigte Schiff gehört hatte. Wagemutig, gefährlich, ein Symbol für die Grenzen des Möglichen auf See.

„Ja, ich habe davon gehört“, sagte sie langsam, ihre Stimme beherrscht, doch innerlich spürte sie einen Funken Neid und Sehnsucht, den sie nicht kontrollieren konnte.

„Es ist unglaublich, Maren“, fuhr er fort, seine blauen Augen leuchteten. „Die Freiheit, die offene See, das Abenteuer! Es ist alles, wovon ich je geträumt habe. Und wenn wir zurückkommen, werden wir reich sein. Reich genug, um unseren Familien zu helfen.“

Maren schluckte schwer. In seinen Worten lag so viel Optimismus, so viel Versprechen – und doch war es eine Welt, die für sie unerreichbar schien. Für ihn war das Meer eine Einladung. Für sie war es ein verschlossener Raum, dessen Schlüssel sie nicht besaß.

„Das klingt... aufregend“, brachte sie schließlich hervor, ihre Stimme fast tonlos.

Folke lachte, und der Klang war so frei und unbeschwert, dass es in ihr schmerzte. „Das ist es auch! Warum kommst du nicht mit? Ich könnte mit dem Kapitän reden. Jemand wie du... du würdest dich gut machen an Bord.“

Die Absurdität des Vorschlags ließ Maren einen Moment sprachlos zurück. Ihr Blick glitt zu seinen strahlenden Augen, die so wenig von ihrer Wirklichkeit verstehen konnten. „Folke...“, begann sie schließlich, ihre Stimme voller beherrschter Bitterkeit. „Das ist nicht möglich.“

Er runzelte die Stirn. „Warum nicht? Du bist stark, Maren. Klüger als die meisten Männer. Was hält dich hier auf?“

„Verpflichtungen“, sagte sie, und das Wort fühlte sich wie eine Last auf ihrer Zunge an.

Er schüttelte den Kopf, seine Begeisterung wich echter Besorgnis. „Verpflichtungen? Maren, ich verstehe, dass du viel durchmachst, aber lass dich nicht von diesen Ketten fesseln. Du bist besser als das. Du bist... freier, als du glaubst.“

Seine Worte hallten in ihr wider, und für einen Moment wollte sie ihm glauben. Doch die Realität war eine andere. „Ich muss gehen“, sagte sie abrupt und wandte sich ab.

„Maren, warte –“

Doch sie ließ ihn stehen und ging den schmalen Pfad zurück, hinunter zur Siedlung. Ihr Herz war schwer, ihre Gedanken ein undurchdringlicher Wirbel aus Wut, Verzweiflung und einem leisen, beharrlichen Funken Hoffnung.

Als sie die Hütte erreichte, sah sie Johann und Greta im Sand spielen. Ihre Mutter saß auf der Bank davor, die Hände gefaltet, ihre Augen leer in die Ferne gerichtet. Maren blieb stehen und betrachtete sie, ihre Familie – die Quelle all ihrer Sorgen und all ihrer Entschlossenheit.

In dieser Nacht lag Maren wach, den Blick auf die raue Holzdecke gerichtet, während Folkes Worte in ihrem Kopf nachhallten. Freiheit. Abenteuer. Wohlstand. Sie waren unerreichbar, und doch... war da ein Gedanke, ein winziger, verwegener Gedanke.

Sie drehte sich zur Seite, ihr Blick fiel auf die Kleidung ihres Vaters, die noch immer in der Ecke hing. Ein Plan begann sich in ihrem Kopf zu formen – wild, gefährlich und voller Möglichkeiten.

Mit einem letzten Blick zu den Sternen, die durch das Fenster schimmerten, schloss sie die Augen. Das Meer rief sie. Das Flüstern wurde klarer, bis es sich wie eine unausweichliche Wahrheit anfühlte.

Sie würde einen Weg finden, zur See zu fahren. Auf die eine oder andere Weise.