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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Der Spiegel der Opfer


Lea Silverthorne

Tief unter dem Hexenberg, wo kein Tageslicht je eindringt, liegt das Grabheiligtum wie ein schlafender Riese, dessen Atem die feuchten Höhlenwände erzittern lässt. Die Luft ist schwer, getränkt von einem erdigen, modrigen Geruch, der an uralte Geheimnisse erinnert, während ein kalter Hauch über meine Haut streicht, als würde die Höhle selbst mich warnen wollen. Pulsierende Runen, eingraviert in den rauen Stein, werfen ein unruhiges, bläuliches Licht, das in meinen Augen brennt und Schatten über mein Gesicht tanzt. Ich stehe vor einem gewaltigen Spiegel, dessen Oberfläche wie flüssiges Silber schimmert, unheimlich lebendig, als würde er mich beobachten. Mein verzerrtes Spiegelbild starrt zurück – blass, fast durchscheinend, meine grünen Augen vollständig von einem silbernen Glanz durchdrungen, der bei jeder Bewegung heller aufleuchtet. Die Halbmondnarbe an meinem Hals pulsiert, eine eisige Kälte, die sich wie eine Klaue in mein Fleisch gräbt und tiefer, bis in mein Herz, vordringt.

Ein leises Flüstern erhebt sich aus den Tiefen des Spiegels, kaum hörbar, doch es vibriert in meinem Kopf, als würde es direkt aus meinen Gedanken sprechen. „Opfer bringt Erlösung“, haucht es, und ein Schauer jagt meinen Rücken hinab. Meine Finger, zitternd vor Kälte und Unsicherheit, strecken sich nach der glatten Oberfläche aus, doch ich halte inne, bevor sie den Spiegel berühren. Was, wenn ich mich darin verliere? Was, wenn das Silberblut, das durch meine Adern rauscht, nicht nur meine Kräfte, sondern auch mein Innerstes frisst, Stück für Stück, bis nichts mehr von mir übrig ist? Die Macht, die ich geerbt habe, ist ein Geschenk und ein Fluch zugleich – sie könnte den Bann brechen, der meine Familie und das Rudel seit Jahrhunderten bindet, aber zu welchem Preis? Meine Brust zieht sich zusammen, als ich an die eisige Leere denke, die mich jedes Mal durchdringt, wenn ich diese Kräfte rufe. Es ist, als würde ich langsam zu Stein werden, als würde mein Herz unter einer Schicht aus kaltem Metall erstarren.

Ich schließe die Augen, nur für einen Moment, um die Kontrolle zurückzugewinnen, doch die Dunkelheit hinter meinen Lidern ist keine Zuflucht. Stattdessen sehe ich die Gesichter meiner Ahnen – strenge, kalte Blicke, wie aus Marmor gemeißelt, die mich an die Bürde erinnern, die ich trage. Meine Großmutter, deren Silberring schwer an meinem Finger ruht, hat diesen Fluch hinterlassen, und ich bin diejenige, die ihn lösen muss. Aber bin ich stark genug? Oder werde ich zerbrechen, wie so viele vor mir? Ein bitterer Geschmack steigt in meiner Kehle auf, während meine Hand sich doch zur Spiegeloberfläche bewegt, fast gegen meinen Willen, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft gezogen.

Plötzlich hallt ein ferner Ruf durch die labyrinthartigen Gänge des Heiligtums, rau und dringlich. Kyle. Mein Herz macht einen Satz, und für einen winzigen Moment durchbricht die Wärme seiner Stimme die Kälte in mir. Er ist nicht hier, nicht nah genug, um mich zu erreichen, aber die magische Bindung zwischen uns lässt mich seine Sorge spüren, seine Angst um mich, als würde sie meinen eigenen Puls beschleunigen. Ich öffne den Mund, um zu antworten, doch bevor ein Laut über meine Lippen kommt, erbebt der Boden unter meinen Füßen. Ein tiefes, bedrohliches Grollen steigt aus den Tiefen der Erde auf, und die Runen an den Wänden flackern unruhiger, ihr Licht wird greller, fast schmerzhaft. Staub rieselt von der Decke, und mein Blick schnellt zurück zum Spiegel, dessen Oberfläche sich wellt wie ein See, der von einem unsichtbaren Sturm aufgewühlt wird.

Er splittert nicht. Stattdessen öffnet sich der Spiegel wie ein hungriger Schlund, ein schwarzes, gähnendes Maul, das mich zu verschlingen droht. Ein Schrei bleibt in meiner Kehle stecken, als eine unsichtbare Kraft mich nach vorne reißt. Die Welt verschwimmt, Kälte umhüllt mich wie ein nasser Mantel, und dann bin ich nicht mehr im Heiligtum. Ich stehe im Ostmark-Wald, aber er ist nicht der Wald, den ich kenne. Unnatürliche, schwarze Flammen lodern um mich herum, verschlingen die uralten Bäume, deren Äste wie verzweifelte Arme in den blutroten Himmel greifen. Der Gestank von verbranntem Holz und etwas Schärferem, Metallischem – Blut – erfüllt die Luft, und ich keuche, als meine Narbe unerträglich brennt, als würde sie aufreißen. Vor mir, auf einer Anhöhe, steht Erich Coldfang, doch er ist nicht der Wolf, den ich kenne. Seine Gestalt ist verzerrt, weder Mensch noch Tier, sondern etwas Unnatürliches, ein Albtraum aus Schatten und Fleisch. Seine grauen Augen glühen gelb, ein krankes, unheiliges Licht, und er steht triumphierend über einem Meer aus Blut, das sich zu seinen Füßen ergießt. Sein Blick findet meinen, und ein kaltes, spöttisches Lächeln zieht seine Lippen auseinander. „Du kommst zu spät, Kuratorin“, knurrt er, und seine Stimme ist ein Echo aus der Hölle.

Die Vision trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Meine Knie geben nach, und ich taste nach Halt, doch da ist nichts als Rauch und Asche. Die Narbe an meinem Hals pulsiert so heftig, dass ich glaube, sie könnte mich zerreißen, und eine eisige Gewissheit durchströmt mich – das könnte die Zukunft sein. Wenn ich versage, wenn ich die falsche Entscheidung treffe, wird das alles, was ich liebe, in Flammen aufgehen. Kyle. Maris. Das Rudel. Selbst die zerbrechliche Grenze zwischen Menschen und Wölfen. Alles verloren, weil ich nicht stark genug bin.

So abrupt, wie sie begann, endet die Vision. Ich stürze, ein kurzer, brutaler Fall, und lande hart auf kaltem, unebenem Stein. Schmerz schießt durch meinen Körper, mein Atem kommt in kurzen, abgehackten Stößen, und ich blinzle gegen die plötzliche Dunkelheit an. Ich bin nicht mehr vor dem Spiegel. Ich befinde mich in einer verborgenen Kammer, die ich zuvor nie gesehen habe, tief im Bauch des Heiligtums. Die Wände hier sind anders – enger, bedrückender, und neue Runen glühen in einem kranken, fahlen Licht, das meinen Magen umdreht. Sie pulsieren wie ein lebendiger Herzschlag, und als ich mich auf die Knie ziehe, sehe ich, dass sie Worte formen, eine unvollständige Prophezeiung, die in der alten Sprache der Kuratoren geschrieben ist. Meine Finger zittern, als ich die Linien nachzeichne, die Kälte des Steins beißt in meine Haut. „Ein Ritual… der Fluch kann gebrochen werden…“, murmle ich, meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, während ich die Bedeutung der Worte erfasse. Doch die letzten Runen sind undeutlich, verwischt, als hätte jemand versucht, sie zu zerstören. Ein Satz sticht hervor, unvollständig, aber messerscharf: „Der Preis ist das Leben des…“

Mein Atem stockt. Das Leben des… wessen? Meines? Mein Blick haftet an den Runen, als könnten sie mir die Antwort geben, doch sie schweigen, flackern nur weiter, als ob sie auf etwas warten. Die Kälte in mir wächst, nicht nur von der feuchten Luft oder dem harten Stein unter meinen Knien, sondern von innen, eine Leere, die sich ausdehnt, mit jedem Herzschlag, mit jedem Gedanken an das, was diese Worte bedeuten könnten. Ich streiche mit zitternden Fingern über die Halbmondnarbe, die noch immer brennt, ein ständiges Echo der Vision und der Macht, die mich zerreißen könnte. Kann ich diesen Weg gehen? Kann ich alles riskieren – nicht nur mich selbst, sondern vielleicht auch alles, was mir wichtig ist?

Ein fernes Echo von Kyles Ruf dringt durch die Gänge, schwächer diesmal, aber immer noch dringlich, wie ein Anker, der mich zurückziehen will. Doch ich kann nicht antworten, nicht jetzt. Mein Körper ist schwer, als hätte die Vision all meine Kraft aus mir gesaugt, und ich bleibe auf dem kalten Boden liegen, umgeben von den unruhig flackernden Runen, die mich zu verhöhnen scheinen. Die Kälte in mir wächst, ein eisiger Nebel, der sich um mein Herz legt, und ich flüstere leise zu mir selbst, meine Stimme bricht in der Stille: „Ist das der Anfang vom Ende?“

Ein weiteres Beben lässt den Staub von der Decke rieseln, und mein Blick schnellt zur Wand, wo ein unheimlicher Schatten huscht, kaum sichtbar im schwachen Licht der Runen. Mein Puls beschleunigt sich, die Narbe pocht noch heftiger, und ich halte den Atem an, als die Dunkelheit sich verdichtet, als ob etwas – oder jemand – sich nähert.