Kapitel 1 — Echoes aus der Vergangenheit
Helena
Die schweren Holztüren des Hauses knarrten, als ich sie aufdrückte, und ein Schwall abgestandener, kühler Luft schlug mir entgegen. Der Geruch von Staub und Verfall hing wie ein unsichtbarer Schleier in der Luft, und ich zögerte einen Moment auf der Schwelle. Es war, als würde die Vergangenheit selbst mich beobachten, mich bewerten, während ich einen Fuß über die unsichtbare Grenze setzte, die mich von diesem Haus getrennt hatte. Das Haus meiner Kindheit.
Mein Blick glitt über den einst makellosen Eingangsbereich, der jetzt mit einer dünnen Staubschicht überzogen war. Die Sonnenstrahlen, die durch die schmutzigen Fenster fielen, warfen aschfahle Muster auf den Boden, und die Stille war so dicht, dass sie fast greifbar schien.
Ich zog die Tür hinter mir zu. Der gedämpfte Knall hallte wie ein Echo durch die leeren Räume. Meine Schritte auf dem knarrenden Parkett waren das einzige Geräusch, als ich mich langsam durch das Foyer bewegte. Die Erinnerungen kamen mit jeder Ecke, jedem Detail zurück – das große vergilbte Porträt meiner Mutter an der Wand, die alte Standuhr, die längst stehen geblieben war, und der orientalische Teppich, der jetzt ausgefranst und blass wirkte.
Ein Bild schoss mir durch den Kopf: Ich, gerade alt genug, um die Uhrzeit zu lesen, wie ich vor dieser Standuhr saß und voller Stolz die Zeiger verfolgte, während meine Mutter leise lachte. Die Erinnerung war warm, bittersüß, und ich schob sie schnell beiseite.
„Warum bin ich überhaupt hier?“ murmelte ich leise – eine Frage, deren Antwort ich längst kannte. Es war keine rationale Entscheidung gewesen, zurückzukehren. Es war das Tagebuch meiner Mutter, das mich hierhergelockt hatte. Der Gedanke, etwas von ihr zu finden, das mir helfen konnte, die brüchigen Puzzleteile ihrer Vergangenheit zusammenzusetzen – und vielleicht etwas von mir selbst.
Die Treppe knarrte protestierend unter meinen Schritten, als ich mich vorsichtig nach oben wagte, vorbei an den Bildern an der Wand. Familienfotos, die den Anschein einer Harmonie vermittelten, die es nie wirklich gegeben hatte. Mein Vater lächelte auf keinem von ihnen, und die Augen meiner Mutter wirkten seltsam traurig, als könne sie die Tragödie vorhersehen, die sie schließlich ereilte.
Ich erinnerte mich an den Moment, als ich das Tagebuch gefunden hatte. Es war zwischen alten Büchern in der kleinen Bibliothek des Hauses versteckt gewesen, ein unscheinbarer Einband, der fast übersehen worden wäre. Doch ich hatte es geöffnet – und ihre Handschrift erkannt. Die Worte schienen mich zu rufen, genauso wie das Haus es jetzt tat.
Das Schlafzimmer meiner Eltern war dunkel, die schweren Vorhänge halb geschlossen. Der Raum war seltsam unangetastet, als hätte die Zeit hier innegehalten. Auf dem Nachttisch lag immer noch die alte Porzellantasse meiner Mutter, der Tee längst zu einer klebrigen, schwarzen Masse eingetrocknet. Der Schrank, den ich öffnete, gab den Blick auf ihre Kleidung frei – elegante Kleider, die längst aus der Mode waren, aber immer noch ihren unverwechselbaren Duft trugen.
Ich griff nach der Schmuckschatulle, die auf der Kommode stand, und öffnete sie mit zitternden Fingern. Schmuckstücke, die sie einst zu gesellschaftlichen Anlässen getragen hatte, lagen ordentlich darin, doch mein Blick blieb an einem Medaillon hängen. Es war schwer und kalt in meiner Hand, und ein seltsames Gefühl durchfuhr mich, als ich es betrachtete.
Das Symbol darauf – eine kunstvoll eingravierte Spirale, die von einer Schlange umringt wurde – war mir völlig fremd. Der feine Glanz des Metalls und die Präzision der Gravur ließen es wie ein Artefakt aus einer anderen Zeit wirken. Meine analytische Seite meldete sich: Was war das für ein Symbol? Warum hatte ich es noch nie gesehen?
Ich drehte das Medaillon in meinen Händen und suchte nach einer Gravur oder einer weiteren Erklärung, fand jedoch nichts. Warum hatte meine Mutter so etwas verborgen gehalten? Der Gedanke, dass sie Geheimnisse gehabt haben könnte, war nichts Neues – es war vielmehr eine leise Gewissheit, die mich seit meiner Kindheit begleitete. Aber dieses Symbol schien mehr als nur ein Schmuckdetail zu sein.
Mit dem Medaillon in der Hand setzte ich mich auf das Bett und öffnete das Tagebuch, das ich mitgebracht hatte. Die Seiten waren vergilbt, und die Tinte war an manchen Stellen verblasst, aber die Worte meiner Mutter waren klar und voller Emotionen, die sie nie laut ausgesprochen hatte.
„… Es gibt Dinge, die ich dir nicht erklären kann, Helena. Dinge, die dich schützen sollen, auch wenn sie dir wie Verrat erscheinen mögen. Das Medaillon ist ein Schlüssel, doch nur du wirst wissen, wann du die Tür öffnen musst. Bitte verstehe, dass alles, was ich tat, aus Liebe geschah …“
Meine Finger fuhren über die Zeilen, als könnte ich sie durch Berührung lebendig machen. Ein Schlüssel? Zu was? Und warum hatte sie nie den Mut gehabt, mir das direkt zu sagen?
Das Medaillon wog schwer in meiner Hand, und ein seltsames, kaum greifbares Gefühl durchströmte mich, als ich es umlegte. Es lag kühl gegen meine Brust, doch die Berührung beruhigte mich merkwürdigerweise. Es fühlte sich an wie ein Puls, ein leises Echo von etwas, das ich noch nicht verstand.
Ein plötzliches Vibrieren riss mich aus meinen Gedanken. Mein Handy, das ich achtlos auf die Kommode gelegt hatte, summte bedrohlich laut in der Stille. Der Name meines Vaters leuchtete auf dem Display, und für einen Moment erstarrte ich, bevor ich den Anruf entgegennahm.
„Helena,“ ertönte seine Stimme, kühl und distanziert wie immer. „Wo bist du?“
„Im Haus,“ antwortete ich knapp, bereit für die übliche Zurechtweisung darüber, dass ich mich in meine eigene Vergangenheit vergrub.
„Du musst sofort zur Klinik kommen,“ unterbrach er mich jedoch, seine Stimme schärfer als gewohnt. „Es ist wichtig.“
„Was ist los?“
„Ich werde es dir erklären, wenn du hier bist. Beeil dich.“
Das Gespräch endete abrupt, ohne weitere Erklärungen. Ich starrte für einen Moment auf das Handy, bevor ich es wieder weglegte und aufstand.
Das Medaillon hing schwer um meinen Hals, als ich es unter meinem Mantel verbarg. Es fühlte sich seltsam beruhigend an, fast so, als würde es mich erden – und gleichzeitig eine Last darstellen, die ich noch nicht vollständig begreifen konnte.
Auf dem Weg nach draußen warf ich einen letzten Blick auf das Schlafzimmer. Die Vergangenheit war hier wie ein Schatten, der mich verfolgte, und ich wusste, dass ich nicht mehr lange davor weglaufen konnte. Doch unter der Oberfläche, in den Zeilen des Tagebuchs und den Rätseln des Medaillons, lag etwas, das darauf wartete, entdeckt zu werden.
Ein leises Geräusch ließ mich zusammenzucken – das Knarzen einer Bodendiele, obwohl ich stillstand. Ich wirbelte herum, das Herz plötzlich wilder schlagend, doch niemand war da. Nur die Stille des Hauses, die mich auszulachen schien.
Ich atmete tief durch, schloss die Tür hinter mir und trat in das kühle Dämmerlicht des Abends. Ein letzter Blick zurück auf das Haus – das Symbol meiner zerbrochenen Familie – und ich machte mich auf den Weg zur Klinik.
Was auch immer mein Vater mir sagen wollte, ich spürte, dass es der Anfang von etwas war, das ich nicht kontrollieren konnte. Und das Medaillon, das jetzt unter meinem Mantel verborgen war, fühlte sich an wie ein Kompass, der mich in eine unbekannte Richtung wies.
Die Straßen waren still, doch in meinem Kopf hallten die Worte meiner Mutter wider. „Nur du wirst wissen, wann du die Tür öffnen musst.“
Ich fragte mich nur, ob ich bereit war, zu sehen, was dahinter lag.