Kapitel 2 — Unter der Oberfläche
Helena
Die Nacht hatte die Stadt vollständig umhüllt, als ich das Haus verließ, das Medaillon unter meinem Mantel ein kaltes Gewicht gegen meine Haut. Der Regen verwischte die Konturen der Straßen, und der stetige Nebel verwandelte die Laternenlichter in verschwommene Flecken, die die Dunkelheit kaum durchdrangen. Meine Absätze hallten auf dem Gehweg wider – ein einsames, monoton rhythmisches Geräusch, das meine Gedanken überdecken sollte, doch es gelang mir nicht, sie zum Schweigen zu bringen.
Das Medaillon schien schwerer, fast drückend, je mehr ich darüber nachdachte. Der „Schlüssel“, wie meine Mutter es genannt hatte. Aber ein Schlüssel wozu? Die Frage hielt sich in meinem Kopf, wie eine unangenehme Erinnerung, die sich nicht abschütteln ließ.
Im Taxi schaltete ich das Radio ein, in der Hoffnung, die Ablenkung würde meine Gedanken in eine andere Richtung lenken. Stattdessen wurde ich von einer monotonen Nachrichtensprecherin begrüßt, die von Eskalationen zwischen kriminellen Clans berichtete. „Ein Schusswechsel in einem Lagerhaus im Osten der Stadt hinterließ mehrere Verletzte,“ sagte sie mit nüchternem Ton. „Die Behörden scheinen machtlos, und die Gewalt weitet sich aus. Es geht nicht nur um Territorien, sondern auch um alte Schulden. Niemand ist sicher.“
Ein Name fiel, den ich nicht kannte, doch er hallte seltsam vertraut in meinem Kopf wider. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als ob ich unbewusst näher an dieser Welt war, als ich dachte. Ich schaltete das Radio aus.
Die Fahrt endete vor der Klinik, doch schon bevor ich ausstieg, spürte ich, dass etwas anders war. Die Glasfassade und der übliche sterile Glanz wirkten bedrückender als sonst, und die Szene vor mir bestätigte dieses Gefühl. Sicherheitsleute postierten sich vor den Eingängen, doppelt so viele wie gewöhnlich. Ihre Haltung war angespannt, die Blicke wachsam. Ich hielt inne, zog die Schultern zurück und atmete tief durch. Flucht war keine Option – nicht jetzt.
Einer der Wachleute nickte, als ich näher kam. „Dr. Falkenstein.“ Seine Stimme war knapp, fast ein Befehl, während er die Tür für mich öffnete. Ich trat ein und wurde sofort von einer gespitzten Atmosphäre empfangen. Die Flure, sonst erfüllt von gleichmäßigen Stimmen, und dem rhythmischen Klackern von Absätzen, waren seltsam still. Selbst die wenigen Gespräche klangen gedämpft, als ob die Wände Geheimnisse verschluckten.
Ich ging den Flur entlang, meine Schritte ruhig und kontrolliert, obwohl ich innerlich von Fragen gequält wurde. Ich bemerkte Männer in Anzügen, die nicht hierhergehörten – ihre Blicke waren berechnend, fast wertend. Es war, als würden sie jede Bewegung, jedes Geräusch registrieren.
Eine Krankenschwester trat mir in den Weg, ihre Miene eine Mischung aus Erleichterung und Anspannung. „Dr. Falkenstein,“ sagte sie leise. „Dr. Müller hat Sie umgehend in OP 3 angefordert. Es ist ein Notfall.“
Meine Augen verengten sich. „Was für ein Fall?“
Sie zögerte, ein unsicheres Flackern in ihrem Blick. „Ein prominenter Patient,“ murmelte sie schließlich, ihre Stimme so leise, dass ich sie kaum verstand. „Es ist… heikel.“
Das Wort traf mich wie ein Stich. Heikel bedeutete in dieser Klinik immer dasselbe: ein Patient, dessen Identität oder Umstände nicht hinterfragt werden durften. Ich nickte knapp und setzte meinen Weg fort.
Als ich den OP betrat, war der Raum ein grelles Meer aus Licht und gezügelter Hektik. Das Team bewegte sich effizient, doch die Spannung war fast greifbar. Dr. Müller trat auf mich zu, seine Stimme gesenkt. „Gut, dass Sie hier sind,“ sagte er. Sein Tonfall war ungewöhnlich ernst, fast nervös. „Der Patient ist in einem kardiogenen Schock. Wir müssen sofort handeln. Zu viele Augen sind auf uns gerichtet.“
Ich nickte knapp. „Geben Sie mir die Details.“
In solchen Momenten verschwand alles andere. Die Welt reduzierte sich auf den sterilen Geruch, die klaren Linien der Anatomie und die präzisen Bewegungen meiner Hände. Der Patient war ein Mann mittleren Alters, und obwohl ich mich vollständig auf die Operation konzentrierte, spürte ich die Blicke auf mir.
Dann, während ich den Eingriff durchführte, bemerkte ich etwas aus den Augenwinkeln. Eine Gestalt hinter dem Glasfenster des OPs. Groß, dunkel gekleidet, regungslos. Ich zwang mich, den Kopf nicht zu heben, meine Aufmerksamkeit nicht abzulenken, doch der Druck in meiner Brust verstärkte sich.
Die Operation verlief erfolgreich. Ich trat zurück, meine Hände zitterten leicht – eine Mischung aus Erschöpfung und Adrenalin. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Als ich den OP verließ, war der Flur fast leer. Die Klinik wirkte unnatürlich still, wie ein Wesen, das in der Dunkelheit lauerte.
Ich erreichte mein Büro und öffnete die Tür. Das Telefon auf meinem Schreibtisch blinkte mit einer neuen Nachricht. Mein Herzschlag beschleunigte sich, doch ich griff danach, entsperrte den Bildschirm und las die Worte.
„Manches Blut verbindet stärker als gedacht.“
Die Nachricht schien die Luft aus dem Raum zu saugen. Mein erster Instinkt war, das Handy wegzuschleudern, doch stattdessen starrte ich auf die Worte, als könnten sie mir Antworten geben, wenn ich sie nur lange genug betrachtete. Mein Atem ging flach, und das Gewicht des Medaillons schien überwältigend.
Ich griff instinktiv danach, legte eine Hand darauf, als könnte ich so eine Verbindung zu meiner Mutter, zu einer Vergangenheit herstellen, die ich noch nicht verstand. Die Nacht war noch lange nicht vorbei, und die Schatten, die mich verfolgten, wurden dichter.