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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Versteckte Pfade


Helena

Der Morgen erwachte grau und schwer über der Stadt. Der Regen hatte die Straßen in eine glänzende Ödnis verwandelt, und der Nebel hing wie ein Vorhang aus Unsicherheit über allem. Mein Kopf brummte von der schlaflosen Nacht, die Nachricht auf meinem Telefon brannte sich immer wieder in meine Gedanken. „Manches Blut verbindet stärker als gedacht.“ Die Worte fühlten sich wie eine Drohung an, eine kalte Hand, die an mir zog, mich zwingen wollte, in einen Abgrund zu blicken, vor dem ich mich bislang gescheut hatte. Es war, als ob jemand einen Schleier lüften wollte, den ich verzweifelt versucht hatte, zu ignorieren.

Das Medaillon lag kühl auf meiner Haut, sein Gewicht schien sich mit jedem Gedanken, mit jeder Sorge zu verdoppeln. Ich stand am Fenster meines Büros und starrte auf die nebelverhangene Skyline. Ein Gedanke nagte an mir: Was, wenn das Symbol auf diesem Medaillon nicht nur ein Fragment der Vergangenheit meiner Mutter war, sondern auch ein Schlüssel zu Rätseln, die ich vielleicht nie lösen wollte? Die Klinik erstickte mich mit ihrem sterilen Schweigen, und ich fühlte mich wie ein Fremdkörper – fehl am Platz und doch untrennbar mit den Geheimnissen verbunden, die sich hinter diesen Mauern versteckten.

Ein leises Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Sophie streckte ihren Kopf durch die Tür, ohne auf meine Antwort zu warten. Ihre braunen Augen waren warm, aber auch wachsam, als suchten sie nach etwas, das ich nicht zeigen wollte.

„Helena, alles in Ordnung?“ Ihre Stimme war sanft, mit einem Unterton, der deutlich machte, dass sie die Wahrheit hören wollte.

Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. „Nur ein langer Tag, Sophie.“

„Ein langer Tag oder eine lange Nacht?“ Sie trat näher, lehnte sich leicht auf meinen Schreibtisch und ließ ihren Blick nicht von mir. „Du hast nicht geschlafen, oder?“

Es gab keine Verurteilung in ihrer Stimme, nur ein leises Bedauern, das ich nicht ertragen konnte. Ich wollte ihr alles erzählen – die Nachricht, das Medaillon, die Männer in Anzügen – doch die Worte blieben in meinem Hals stecken. „Ich komme klar,“ sagte ich schließlich, meine Stimme leise, und wich ihrem Blick aus.

Sophie zögerte, bevor sie langsam nickte. „Falls du reden willst... weißt du, wo du mich findest.“ Sie richtete sich auf und warf mir einen letzten, prüfenden Blick zu. „Ach, übrigens, Dr. Müller hat nach dir gefragt. Es gibt eine neue Entwicklung, und er will dich im Konferenzraum sehen.“

Mein Magen zog sich zusammen. Was für eine Entwicklung? Ich nickte stumm und schlüpfte in meinen Kittel, während ich mich zur Tür wandte.

Der Weg zum Konferenzraum fühlte sich länger an als sonst. Jede Bewegung schien schwerer, als ob die Atmosphäre der Klinik meine Schritte bremste. Flure, die früher belebt und hektisch waren, lagen still, nur das leise Surren der Neonlichter durchbrach die bedrückende Stille. Als ich den Raum betrat, bemerkte ich sofort die zwei Männer in dunklen Anzügen. Sie wirkten fehl am Platz in ihrer steifen Eleganz, ihre kantigen Gesichter so ausdruckslos wie der Stein, aus dem die Statuen auf dem Friedhof meiner Kindheit geschnitzt waren.

„Dr. Falkenstein,“ begann Müller, ohne sich die Mühe zu machen, höflich zu klingen. Seine Stimme war angespannt, seine Haltung nervös. „Es gibt... sensible Umstände, die Ihre Aufmerksamkeit erfordern.“

Einer der Männer trat vor, und sein Blick, der mich kalt fixierte, ließ mich frösteln. „Dr. Falkenstein,“ sagte er mit einer ruhigen, fast einschmeichelnden Stimme, die dennoch eine gefährliche Schärfe enthielt, „wir wissen um Ihre Verbindung zu... gewissen Familien in dieser Stadt.“

Mein Herz schlug schneller. „Verbindung?“ Die Worte kamen schärfer heraus, als ich beabsichtigt hatte. „Ich habe keine Verbindungen zu irgendjemandem außerhalb dieser Klinik.“

Der Mann lächelte dünn, ein Lächeln, das nichts Warmes hatte. „Natürlich.“ Langsam zog er ein kleines Notizbuch aus seiner Jackentasche und schrieb etwas hinein, ohne dabei den Blick von mir abzuwenden. „Wir werden uns wiedersehen, Dr. Falkenstein.“

Mit diesen Worten verließen die Männer den Raum, ihre Schritte hallten durch die Stille wie ein drohendes Echo. Müller wich meinem Blick aus, als ich ihn ansah.

„Wer waren diese Männer?“ fragte ich scharf.

„Lass es gut sein, Helena,“ sagte er leise, fast flehend. „Es ist besser, die Dinge nicht zu hinterfragen.“

Sein Rückzug hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Alles schien plötzlich zu zerfallen, als wäre ich Teil eines Spiels geworden, dessen Regeln ich nicht verstand.

***

Das Berliner Stadtarchiv erhob sich wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein stiller Wächter der Vergangenheit im Herzen der modernen Stadt. Der Geruch von staubigem Holz und vergilbtem Papier umfing mich, als ich den Lesesaal betrat. Ich hatte meinen freien Nachmittag genutzt, um dem Symbol auf dem Medaillon auf den Grund zu gehen. Irgendwo in diesen Regalen musste die Wahrheit verborgen liegen.

Ein älterer Bibliothekar mit durchdringenden Augen und einem zerfurchten Gesicht trat an mich heran, als ich ihm meine hastig gezeichnete Skizze des Symbols zeigte. „Kennen Sie dieses Zeichen?“ fragte ich, meine Stimme unsicher, aber bestimmt.

Er starrte die Zeichnung an, und seine Miene versteinerte sich. „Das...“ murmelte er schließlich. „Das ist ein Symbol, das mit den alten Bruderschaften dieser Stadt verbunden ist. Es steht für Macht, Verrat und Blut.“ Seine Stimme wurde leiser, fast ein Flüstern. „Ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein, junge Dame. Solches Wissen bringt oft mehr Ärger, als es wert ist.“

„Bitte,“ sagte ich, während ich die Skizze näher an ihn heranschob. „Ich muss es wissen.“

Mit einem Seufzen verschwand er in den hinteren Reihen der Regale und brachte ein dickes, staubiges Buch hervor, das wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit aussah. „Das ist alles, was ich Ihnen geben kann,“ sagte er und legte das Buch vorsichtig vor mir ab. „Aber bedenken Sie: Die Vergangenheit dieser Stadt vergisst nichts.“

Die Stunden vergingen wie im Flug, als ich die Seiten des Buches durchblätterte. Das Symbol tauchte immer wieder auf – auf alten Wappen, in Schriften von Familienchroniken –, doch die Erklärungen waren spärlich. Eine Sache wurde jedoch klar: Dieses Zeichen hatte eine tiefere Bedeutung, eine Verbindung zu den mächtigsten Familien dieser Stadt.

Als ich das Archiv verließ, war der Himmel in ein bleiernes Grau getaucht. Der Nebel war dichter geworden, und die Kälte kroch mir in die Knochen. Ich zog meinen Mantel enger um mich, das Medaillon kühl auf meiner Haut. Es war, als ob ich ein Stück der Wahrheit berührt hätte – aber nicht genug, um die Panik zu bannen, die sich in mir ausbreitete.

Zurück in der Klinik erwartete mich eine Nachricht auf meinem Schreibtisch: „Neuer Patient. Keine Unterlagen. OP sofort.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich eilte zum OP, meine Gedanken rasten.

Als ich den Vorhang beiseite schob, verschlug es mir den Atem. Der Patient lag blutüberströmt auf der Trage, sein Gesicht gezeichnet von Verletzungen. Und auf seiner Brust prangte ein Tattoo – das gleiche Symbol wie auf meinem Medaillon.

Meine Hände zitterten, als ich meinen Blick zu Müller wandte. „Wer ist er?“ flüsterte ich.

Müller sah mich an, seine Augen flehten mich an, nicht weiter zu fragen. „Das ist irrelevant. Dein Fokus ist die Operation, Helena. Mehr nicht.“

Aber ich wusste, dass es mehr war. Viel mehr. Und ich wusste auch, dass ich bald keine Wahl mehr haben würde, als die Antworten zu suchen.