Kapitel 1 — Ankunft im Schattenreich
Emilia
Der Bus hielt mit einem zischenden Laut und einer sanften Erschütterung an. Emilia griff nach ihrer abgenutzten Ledertasche, die ihre lange Reise überstanden hatte, und stieg langsam aus. Ein kühler Hauch Herbstluft schlug ihr entgegen, durchzogen von einem sonderbaren Duft aus feuchtem Moos, altem Holz und einem Hauch von Rauch. Vor ihr erstreckte sich der Marktplatz, dessen Kopfsteinpflaster im gedämpften Licht der Nachmittagssonne glitzerte. Die Fachwerkhäuser mit ihren bröckelnden Fassaden und klappernden Fensterläden erzählten von einer Vergangenheit, die schwer auf der kleinen Stadt zu lasten schien.
Emilia strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ ihren Blick über die Szenerie schweifen. Es lag eine melancholische, fast unwirkliche Schönheit über der Stadt, die sie gleichsam anzog und ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Die schmalen Gassen, die sich in alle Richtungen verzweigten, waren unnatürlich still, als hielten sie den Atem an. Nur das entfernte Läuten einer Kirchenglocke zerriss gelegentlich die Stille, wie ein Mahnruf, der der Zeit befahl, nicht stehenzubleiben.
Während sie die Adresse aus ihrer Manteltasche zog, schoben sich unwillkürlich Gedanken an ihre Vergangenheit durch ihre Konzentration. Die letzten Jahre waren überwältigend gewesen – das Scheitern ihrer Beziehung, die erdrückende Leere ihres Jobs, die stumme Distanz ihrer Familie. Sie hatte gehofft, dass dieser Neuanfang in einer Stadt voller Geschichte und Geheimnisse ihr endlich das Gefühl von Sinn zurückgeben könnte. Aber jetzt, als sie hier stand, fühlte sie sich kleiner denn je.
Ein älterer Mann saß auf einem Holzstuhl vor einem kleinen Laden und beobachtete sie mit undeutbarem Blick. Seine Augen waren müde, doch nicht unfreundlich, eher forschend, als versuchten sie, sie einzuordnen. Emilia entschied sich, ihn anzusprechen.
„Entschuldigen Sie“, begann sie leise, ihre Stimme klang fast fehl am Platz in dieser stillen Stadt. „Könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich suche die Straße zum Ostplatz.“
Der Mann runzelte die Stirn, als suche er nach einer vergessenen Erinnerung. Schließlich hob er eine zitternde Hand und deutete nach rechts. „Dort entlang. Nach der Kirche links. Aber bleiben Sie nicht zu lange draußen. Der Nebel kommt schnell.“ Seine Stimme klang rau, fast wie ein Echo der alten Steine um sie herum.
„Vielen Dank“, antwortete Emilia und schenkte ihm ein höfliches Lächeln, während sie spürte, wie sein Blick sie weiterhin begleitete. Seine Warnung ließ ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen, und sie zog ihren Mantel enger um sich, bevor sie den Weg einschlug, den er ihr gewiesen hatte.
Die Kirche war schwer zu übersehen. Ihr hoher, gotischer Turm ragte wie ein Ankläger über die Dächer der Stadt hinaus, und ihre steinernen Wände schienen von Jahrhunderten getragen, voller Geschichten, die sie nicht preisgeben wollten. Als Emilia daran vorbeiging, fiel ihr eine Gestalt auf, die in der Eingangspforte stand – eine Frau in einem langen schwarzen Mantel, deren Gesicht von der Kapuze verborgen war. Einen Moment lang schien es, als würde die Frau direkt zu ihr hinübersehen, bewegungslos und doch durchdringend. Emilia spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete, und beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte.
Schließlich erreichte sie die angegebene Adresse. Das schmale, verwaschene Fachwerkhaus wirkte, als würde es von den beiden größeren Gebäuden links und rechts zusammengehalten. Die dunkelgrüne Tür war mit einem Messingschild versehen, auf dem der Name „Frau Müller“ stand. Mit klammen Fingern drehte Emilia den Schlüssel, den sie per Post erhalten hatte, und trat ein.
Drinnen war es kühl, doch nicht unangenehm. Die Möbel waren schlicht, aber sorgfältig arrangiert; die warmen Brauntöne des großen Teppichs im Wohnzimmer verliehen dem Raum einen Hauch von Gemütlichkeit. Durch das Fenster konnte sie die Dächer der Altstadt sehen – eine Reihe dunkler Zähne, die sich in die Ferne zogen. Während sie ihre Tasche auf das Sofa fallen ließ, fiel ihr Blick auf ein altes Buch, das auf einem kleinen Tisch lag. Der Einband war verblasst, und der Titel kaum noch lesbar. Sie nahm es in die Hand, öffnete es jedoch nicht. Stattdessen ließ sie es dort liegen, wie ein Versprechen, es später zu erforschen.
Am Abend beschloss sie, die Stadt ein wenig zu erkunden. Der Wind hatte zugenommen, und ein feiner Nebel kroch bereits durch die Straßen, als sie ihre Wohnung verließ. Die Laternen warfen schwache Lichtkegel, die von der feuchten Luft verschluckt wurden. Emilia zog ihren Mantel enger um sich, während sie in eine der vielen Gassen eintauchte.
Die Altstadt war ein Labyrinth aus engen Wegen, die sich wie lebendig zu bewegen schienen. Manche Straßen führten zu Sackgassen, andere öffneten sich zu kleinen Plätzen, auf denen Brunnen oder verwitterte Statuen standen. Sie wirkte wie ein Wesen, das ihre Geheimnisse nicht preisgeben wollte. In einer besonders engen Gasse blieb Emilia abrupt stehen. Ein kaltes Kribbeln kroch ihren Nacken hinauf, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um, doch da war niemand – nur die Schatten der Häuser und der Nebel, der dichter wurde. „Natürlich“, murmelte sie und versuchte sich selbst zu beruhigen, doch ihr Herzschlag verriet ihre innere Unruhe.
Schließlich gelangte sie zum Marktplatz, der im Mondlicht beinahe gespenstisch wirkte. Die steinernen Figuren des Brunnens schienen sie aus leeren Augen anzusehen, als wollten sie sie vor etwas warnen. Emilia verharrte einen Moment, ehe sie zurück zur Wohnung ging. Dabei bemerkte sie, dass die Fensterläden einiger Häuser geöffnet waren, obwohl kein Licht hinter den Fenstern brannte. Ein seltsamer Zufall, dachte sie, und beschleunigte ihren Schritt.
Zurück in ihrem Zimmer, lauschte sie den fremden Geräuschen der Stadt – dem Knarren alter Holzbalken, dem fernen Heulen des Windes, das wie ein Flüstern klang. Sie fragte sich, ob sie hier wirklich das finden würde, wonach sie suchte. Einen Neuanfang, ja, aber auch etwas Größeres, etwas, das sie selbst noch nicht vollständig begreifen konnte.
Ihre Gedanken wurden von einem unruhigen Schlaf verschlungen. In ihrem Traum sah sie den Nebel, der sich wie ein lebendiges Wesen durch die Gassen schlängelte und die Stadt umschloss. Er war überall – die Altstadt, die Kirche, das Herrenhaus, das sie aus Büchern kannte. In der Dämmerung des Traumes erschienen Augen – moosgrün wie ihre eigenen, doch voller Wissen, das sie nicht teilen wollten. Dann eine Stimme, leise und doch unmissverständlich: „Finde mich.“
Emilia fuhr aus dem Schlaf hoch, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Der Nebel draußen hatte sich nicht gelichtet. Die Stadt wartete.