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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Flüstern der Vergangenheit


Emilia

Der Duft von altem Holz und Pergament stieg Emilia in die Nase, als sie die schwere Tür der Stadtbibliothek aufdrückte. Das Knarren der alten Angeln hallte durch den hohen Raum, und für einen Moment zögerte sie, bevor sie eintrat. Die dicken Wände der Bibliothek schienen jede Spur des Geräuschs zu verschlucken und ließen eine Stille zurück, die fast ehrfurchtsvoll wirkte. Die hohen Regale, prall gefüllt mit Büchern, erhoben sich wie Wächter über sie, und das gedämpfte Licht von Messinglampen warf ein warmes Glühen auf die polierten Holztische.

Ein Schlag an der großen Standuhr in der Ecke ließ sie zusammenzucken. Es war, als hätte die Zeit in diesem Raum eine andere Geschwindigkeit – langsamer, schwerer. Ihr Puls beruhigte sich, während sie sich umsah. Die Bibliothek war so, wie sie es sich vorgestellt hatte: ein Ort, der voller Geheimnisse steckte, ein Hort vergessenen Wissens. Die Luft war erfüllt von dem leisen Rascheln von Seiten, das gelegentlich von einem lauteren Knarren der Dielen unterbrochen wurde, wenn eine Bewegung durch die Stille ging.

Eine ältere Frau mit streng zurückgebundenem grauem Haar tauchte hinter einer Reihe von Regalen auf und bewegte sich mit einer fast lautlosen Anmut durch den Raum. Ihre Brille funkelte im schwachen Licht, als sie Emilia bemerkte.

„Sie müssen Emilia von Falkenberg sein“, sagte die Frau, ihre Stimme ruhig, aber mit einer unüberhörbaren Autorität. „Willkommen in unserer kleinen Sammlung. Ich bin Frau Bergmann, die Bibliothekarin.“

Emilia nickte respektvoll. „Vielen Dank. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Die Bibliothek ist beeindruckend.“

Ein Lächeln huschte über Frau Bergmanns Gesicht, doch es erreichte ihre Augen nicht. „Ja, das ist sie. Sie hat Geschichten zu erzählen… wenn man weiß, wie man ihnen zuhört.“

Die letzten Worte ließen Emilia innehalten. Es war, als hätte die Frau eine unsichtbare Grenze gezogen, eine Einladung und eine Warnung zugleich. Die Bibliothekarin deutete auf den Empfangstresen, wo ein altes Buch lag, dessen Einband von der Zeit gezeichnet war.

„Das hier ist Ihr Arbeitsplatz“, erklärte Frau Bergmann, während sie eine lederne Registraturmappe öffnete. „Unser Bestand ist nicht so modern wie in größeren Städten, aber wir beherbergen einige sehr seltene Werke. Viele davon sind nicht katalogisiert. Ihre Aufgabe wird es sein, Ordnung in das Chaos zu bringen.“

Frau Bergmanns Hand blieb kurz auf dem Buch liegen, als würde sie eine unsichtbare Verbindung zu den Seiten spüren. „Manche Bücher hier sind… besonders. Wenn Sie auf etwas Ungewöhnliches stoßen, sollten Sie mich informieren. Wissen ist eine mächtige Sache, Miss Falkenberg. Aber es kann auch eine gefährliche Sache sein, wenn man es ohne Bedacht nutzt.“

Emilia spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust bildete. Etwas an der Stimme der Frau ließ sie frösteln, doch sie behielt ihre Fassung. „Ich verstehe. Vielen Dank für die Einführung.“

Die Bibliothekarin nickte zufrieden und zog sich zurück, um ihre eigenen Arbeiten zu erledigen. Emilia blieb allein am Empfangstresen zurück, umgeben von der Stille der alten Bücher. Ein leiser Windhauch, der durch die Ritzen eines der hohen Fenster sickerte, ließ die Flamme einer Kerze flackern, die auf einem nahen Tisch brannte. Der Schatten tanzte an den Wänden wie eine lebendige Präsenz.

Mit einem tiefen Atemzug begann Emilia, sich ihre Umgebung genauer anzusehen. Die Regale schienen endlos, jedes war mit Büchern in verschiedensten Zuständen gefüllt: von ledergebundenen Bänden mit goldgeprägten Schriftzügen bis zu zerfledderten Manuskripten, deren Seiten vorsichtig zwischen zwei Holzplatten gepresst wurden. Ein Regal in der hinteren Ecke erregte ihre Aufmerksamkeit, da es durch ein schmiedeeisernes Gitter abgeschlossen war. Ein schweres, antikes Schloss hielt die Tür fest verschlossen.

Emilia trat näher an das Gitter heran. Die feinen Schmiedemuster wirkten wie ein Geflecht aus Ranken, das die Geheimnisse dahinter schützen sollte. Sie legte vorsichtig eine Hand auf das kühle Metall, spürte die raue Oberfläche unter ihren Fingern und fragte sich, welche Geschichten sich dort verbargen.

„Das ist der gesperrte Bereich“, erklang plötzlich Frau Bergmanns Stimme hinter ihr. Emilia wirbelte herum und fand die Bibliothekarin, die sie mit einem Ausdruck beobachtete, der irgendwo zwischen Strenge und Neugier lag. „Dort bewahren wir die empfindlichsten und wertvollsten Dokumente auf. Nur mit ausdrücklicher Zustimmung darf darauf zugegriffen werden.“

Emilia nickte zögernd. „Verstehe. Hat das etwas mit der Geschichte der Stadt zu tun?“

Ein Lächeln – kryptisch und voller unausgesprochener Worte – legte sich auf Frau Bergmanns Lippen. „Vielleicht. Aber nicht alle Geschichten möchten erzählt werden. Einige tragen Konsequenzen mit sich, die besser unentdeckt bleiben.“ Sie hielt kurz inne, als wollte sie ihre nächsten Worte sorgfältig abwägen. „Wissen Sie, es gab einmal einen jungen Mann, der glaubte, alles ergründen zu können, was diese Stadt verbirgt. Er verlor sich in den Schatten dieser Geschichten – und fand niemals den Weg zurück.“

Ein feiner Schauer lief Emilia über den Rücken, doch sie konnte nicht sagen, ob es an der warnenden Stimme der Bibliothekarin lag oder an den düsteren Bildern, die ihre Worte in ihr heraufbeschworen.

Der Tag verging schneller, als sie erwartet hatte. Während sie die Regale durchsuchte und die Bücher katalogisierte, fand sie eine Vielzahl von Werken, die ihren Wissensdurst stillen könnten. Besonders ein Buch erregte ihre Aufmerksamkeit: Der Einband war aus geprägtem Leder, und die Schrift auf dem Cover war fast vollständig verblasst. Beim Öffnen bemerkte sie handgeschriebene Einträge, alt und fast unleserlich, aber voller Andeutungen über die Geschichte der Stadt. Worte wie „Fluch“, „von Greifenthal“ und „Ritual“ stachen ihr ins Auge.

Ein leises Déjà-vu überkam sie – ein unbestimmtes Gefühl, als hätte sie diese Worte schon einmal gehört oder gelesen. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die Seiten umblätterte. Sie griff unwillkürlich nach einem Bleistift und begann, sich Notizen zu machen, während sie die Einträge sorgfältig studierte.

Doch bevor sie weiter in die Tiefe gehen konnte, erklang Frau Bergmanns Stimme aus einem anderen Raum: „Miss Falkenberg, könnten Sie mir bitte helfen?“

Erschrocken schlug Emilia das Buch zu und schob es zurück ins Regal, bevor sie sich auf den Weg machte.

Als der Abend nahte, packte sie ihre Sachen zusammen. Ihre Gedanken kreisten unaufhaltsam um das Buch und die Andeutungen über den Fluch. Sie verließ die Bibliothek mit einem Gefühl, das zwischen Begeisterung und Unbehagen schwankte.

Auf dem Rückweg durch die Altstadt war der Nebel dichter geworden, und die Laternen warfen nur schwache Lichtinseln in die Dunkelheit. Emilias Schritte hallten hohl auf dem Kopfsteinpflaster wider, und sie fühlte sich wieder beobachtet – ein Gefühl, das sie nicht abschütteln konnte. Ihr Blick huschte zu den Schatten der engen Gassen, wo sich die Dunkelheit zu bewegen schien, als würde sie von unsichtbaren Kräften gelenkt. Das entfernte Krächzen einer Krähe ließ sie zusammenzucken.

Als sie zu ihrem Haus zurückkehrte, warf sie einen letzten Blick über die Schulter. Der Nebel verschluckte die Straßen hinter ihr, doch sie hätte schwören können, eine dunkle Gestalt am Rand ihres Sichtfeldes wahrgenommen zu haben.

Zurück in ihrer Wohnung saß sie eine Weile still im Wohnzimmer. Das alte Buch, das sie zuvor bemerkt hatte, lag noch immer auf dem kleinen Beistelltisch. Diesmal nahm sie es in die Hand und schlug es auf. Die Worte auf den Seiten waren altmodisch und schwer verständlich, doch ein Satz ließ sich klar erkennen:

„Die Schatten der Vergangenheit flüstern nur denen, die bereit sind, zuzuhören.“

Emilia klappte das Buch zu. Ihre Hände zitterten leicht, und der Raum schien sich kälter anzufühlen. Sie wusste, dass sie am Anfang von etwas stand – etwas Großem, Unerklärlichem. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie bereit war, es zu ergründen.

Mit einem letzten Blick auf die alte Schrift legte sie das Buch beiseite und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Der Nebel draußen hatte das Fenster wie einen trüben Schleier bedeckt. Sie zog die Vorhänge zu und ließ die Dunkelheit herein.

Der Schlaf kam spät, und ihre Träume waren voller Flüstern, das sie nicht verstehen konnte. Doch eines war klar: Die Stadt hatte ihre Geschichten noch nicht zu Ende erzählt.