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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Nebel über dem Herrenhaus


Emilia

Der Vormittag in der Stadt war ungewöhnlich still. Eine dichte Wolkendecke hatte sich über den Himmel gezogen, und die Luft war schwer und feucht, als trüge sie die Erinnerungen vergangener Tage mit sich. Emilia wanderte ziellos durch die engen Gassen der Altstadt, ihre Gedanken noch immer bei den Büchern, die sie am Vortag in der Bibliothek entdeckt hatte. Besonders das eine Buch mit seinen kryptischen Einträgen über den Fluch beschäftigte sie. Die Worte „Fluch“ und „Ritual“ hatten sich wie Dornen in ihr Gedächtnis gebohrt. Sie ließ die Hand über einen der alten, von Zeit und Wetter gezeichneten Brunnen gleiten und fragte sich, ob die Einträge im Buch wirklich mit der mysteriösen Vergangenheit der Stadt verbunden waren. Oder vielleicht mit dem Herrenhaus, das sie am Vortag in ihren Träumen gesehen hatte?

Ein leichter Wind fuhr durch die Straßen, als Emilias Schritte sie zu einem Torbogen führten, der von wildem Efeu umrankt war. Dahinter lag ein schmaler Pfad, der abseits der belebteren Wege der Stadt führte. Sie hielt inne und betrachtete den von Wurzeln durchzogenen Bodenweg, der halb im Schatten der dicht stehenden Bäume verschwand. Etwas an diesem Ort schien anders zu sein. Eine eigenartige Stille senkte sich über die Umgebung, als ob selbst der Wind verstummt war. Das Ziehen in ihrer Brust, das sie seit ihrer Ankunft in der Stadt verspürte, wurde stärker. Und wieder spürte Emilia diesen Ruf, leise, aber unüberhörbar. Ohne die plötzliche Entscheidung zu hinterfragen, setzte sie einen Fuß vor den anderen und trat ein.

Der Pfad schlängelte sich durch eine Reihe verwilderter Bäume, die mit jedem Schritt dichter wurden. Die knorrigen Äste ragten wie dunkle Finger in den bleichen Himmel, und das leise Knistern von Blättern unter ihren Füßen begleitete sie. Der Nebel, der bis eben noch zart über dem Boden schwebte, kroch allmählich empor und umhüllte die Bäume. Emilia hatte nicht bemerkt, wie weit sie der Weg von der Stadt entfernt hatte, bis sie an einer Lichtung ankam. Ihre Schritte stockten, und sie sog die Luft tief ein, die nach feuchtem Moos und Holz roch. Vor ihr erhob sich das Herrenhaus von Greifenthal.

Das Gebäude wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Die hohen Mauern waren von Efeu überwuchert, und das Dach schien in einigen Bereichen bereits eingestürzt zu sein. Fenster blickten leer und dunkel auf sie herab, und die schwere Eingangstür war mit einer rostigen Eisenkette verschlossen. Eine eigenartige Mischung aus Erhabenheit und Zerfall umgab das Herrenhaus, als ob es zwischen Stolz und Resignation gefangen sei. Der Park, der das Grundstück umgab, war verwildert; hohes Gras wuchs unkontrolliert über vergessene Pfade, und die Überreste einer verfallenen Kapelle waren kaum noch zu erkennen.

Emilia spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, während sie das Haus betrachtete. Es war, als ob der Nebel, der inzwischen die gesamte Umgebung einhüllte, aus der Seele des Gebäudes selbst zu kriechen schien. Die Atmosphäre war seltsam lebendig, beinahe wachsam. Sie trat einen Schritt vor und bemerkte das schwere Tor aus Schmiedeeisen, das den Zugang zum Grundstück versperrte. Eine Krähe saß darauf, ihre glänzenden schwarzen Augen fixierten Emilia mit einer Intensität, die sie erschaudern ließ. Die Krähe krächzte einmal laut, ein Klang, der durch ihre Nerven schnitt, und flog dann mit schwerem Flügelschlag davon.

„Was tust du hier?“ flüsterte sie sich selbst zu, die Worte kaum hörbar, als ob sie sich nicht traute, die Stille zu durchbrechen. Ihre Füße bewegten sich weiter, gelenkt von einer unsichtbaren Kraft, während ihr Verstand ihr zur Vorsicht riet. Sie umfasste mit beiden Händen die kalten Eisenstangen des Tors, ihre Finger zitterten leicht. Ihr Blick wanderte über das Grundstück. Ein alter Brunnen stand in der Nähe der Eingangstreppe, von Moos bedeckt und brüchig. Die Stille des Ortes war nicht leer, sondern angespannt – wie ein Atem, der in Erwartung angehalten wurde.

Dann bemerkte sie die Bewegung. Im obersten Fenster des Herrenhauses zeichnete sich ein Schatten ab, flüchtig und undeutlich, doch unbestreitbar. Emilia blinzelte, ihr Atem stockte. Das Fenster war leer. Sie starrte erneut hinauf, doch die Dunkelheit hinter dem zerbrochenen Glas blieb unbewegt. War es eine Täuschung? Oder hatte sie tatsächlich jemanden gesehen? Ihr analytischer Verstand suchte nach einer Erklärung: War es ein Bewohner? Ein Tier? Oder etwas anderes?

Die Beklommenheit kroch ihr den Nacken hinauf, doch zugleich spürte sie einen Sog, der sie näher an das Herrenhaus heranziehen wollte. Sie trat einen Schritt zurück und zwang sich, den Blick abzuwenden. Der Nebel hatte sich inzwischen verdichtet, und die Bäume entlang des Weges wirkten nun wie stumme Wächter. Ihre Schritte beschleunigten sich, während sie den Pfad zurück zur Stadt suchte. Der Gedanke an das Herrenhaus ließ sie nicht los. Wer oder was hatte sich in diesem Fenster bewegt? War es wirklich nur eine Täuschung, erzeugt von ihrer eigenen Neugier und der unheimlichen Umgebung? Oder hielt das Haus tatsächlich noch Geheimnisse verborgen, die darauf warteten, entdeckt zu werden?

Zurück in der Altstadt fühlte sich Emilia erleichtert, als sie die vertrauten Geräusche der belebteren Straßen hörte, doch die Beklommenheit blieb. Sie konnte das Herrenhaus nicht vergessen. Es schien, als hätte es sie beobachtet – und als hätte es etwas von ihr gewollt.

Am Nachmittag in ihrer Wohnung versuchte Emilia, ihre Gedanken zu ordnen. Sie blätterte durch das Buch, das sie am Vorabend entdeckt hatte, und suchte nach Hinweisen oder Verbindungen zu dem Herrenhaus. Doch ihre Konzentration schwand, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu der finsteren Pracht des Hauses zurück. Schließlich stand sie auf, zog ihren Mantel enger um sich und trat an das Fenster. Der Nebel war noch dichter geworden und hatte die Stadt fest in seinem Griff. In der Ferne glaubte sie, die Silhouette des Herrenhauses zu erkennen, doch sie konnte sich nicht sicher sein.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Sie öffnete nur zögerlich, doch es war nur der Postbote, der ein kleines Paket ablieferte. Als er verschwunden war, kehrte sie zurück an das Fenster und starrte hinaus in die graue Welt. Das Ziehen in ihrer Brust war wieder da, stärker denn je. Doch sie wusste, dass es klüger war, Abstand zu halten – zumindest vorerst.

Die Nacht legte sich über die Stadt, und Emilia fand nur schwer in den Schlaf. Ihre Träume waren erfüllt von flüsternden Stimmen und dem Bild des Herrenhauses, das in einem Meer aus Nebel schwebte. Schatten bewegten sich in ihren Visionen, und immer wieder glaubte sie, eine Gestalt mit blauen Augen zu sehen, die sie stumm anstarrte. Als sie erwachte, hatte sie das Gefühl, dass das Haus sie rief. Ein Ruf, der nicht ignoriert werden konnte.