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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterUnter falscher Identität


Hanna Winter

Der Zug bewegte sich mit einem gleichmäßigen Rattern durch die regennasse Landschaft. Tropfen jagten einander auf der Fensterscheibe, wie unsichtbare Tränen an einer träge weinenden Welt. Der Himmel hing schwer und grau, und die Felder draußen verschwammen zu einem einzigen, melancholischen Gemälde. Es war, als würde die Welt selbst mich vor dem warnen, was vor mir lag.

Drinnen, im Abteil, herrschte eine gedämpfte Stille, unterbrochen nur vom Rascheln von Zeitungen und dem leisen Murmeln vereinzelter Gespräche. Ich hielt meine Tasche fest an mich gedrückt, ein symbolischer Schutzschild gegen die drohende Dunkelheit. Mein Herz raste, doch ich zwang mich zur Ruhe. Es war ein kontrolliertes Chaos in mir – Angst, Gewissheit, Zweifel – und doch blieb ich äußerlich ruhig.

Ich war nicht mehr Hanna Winter. Oder vielmehr, ich durfte es nicht mehr sein.

Anna Meinhardt war jetzt mein Name. Eine Kunsthändlerin, spezialisiert auf exklusive Sammlungen, mit einer Vorliebe für diskrete Veranstaltungen. Meine Haare trug ich streng hochgesteckt, die leichten Wellen sorgfältig gebändigt, und die schlichte Brille auf meiner Nase vervollständigte das Bild einer Frau, die Bücher und Antiquitäten mehr liebte als Menschen. Kein Zufall, dass diese Identität sich sicher anfühlte – sie war weit entfernt von dem, was ich wirklich war.

Auf meinem Schoß lag mein Notizbuch. Jede Seite war gefüllt mit handschriftlichen Notizen, Zeitungsartikeln und Namen, die ich akribisch gesammelt hatte. Daten, Verbindungen, Fragmente einer Geschichte, die sich noch nicht logisch zusammensetzen ließ. Doch ein Name tauchte immer wieder auf, wie ein dunkler Schatten, der sich durch alle Fäden zog: Konstantin von Falkenburg.

Er war der Puppenspieler, der Mann hinter den Masken. Gerüchte flüsterte man über ihn wie Mythen – ein Mann, der Macht nicht durch offene Gewalt, sondern durch subtile Kontrolle ausübte. Manipulativ, brillant, gefährlich. Ich hatte unzählige Nächte damit verbracht, sein Netz aus Intrigen zu studieren, doch es erschien mir immer noch unergründlich. Ein Teil von mir fragte sich, ob ich bereit war, ihm direkt gegenüberzutreten. Doch das Bild von Lara – ihr Lachen, ihre Lebendigkeit – trieb mich voran.

Ich zog einen tiefen Atemzug und schloss das Notizbuch. Der Zug ruckelte leicht, als er in eine Kurve fuhr, und das Rattern der Räder schien für einen Moment lauter zu werden. Ich lehnte mich zurück, erlaubte mir, kurz die Augen zu schließen. Das Spiel, in das ich eingetreten war, war ein Tanz mit einem Abgrund. Doch ich musste weitermachen.

Die Abteiltür öffnete sich mit einem gedämpften Klicken, und mein Blick zuckte unwillkürlich hoch. Ein Mann trat ein – groß, schlank, mit aristokratischen Zügen. Sein maßgeschneiderter Mantel verriet Geschmack und Reichtum, und die selbstbewusste Eleganz seiner Bewegungen war fast zu perfekt. Er hob seinen Koffer mit einer mühelosen Präzision ins Gepäckfach und setzte sich auf den Platz gegenüber.

Meine Augen wanderten unwillkürlich zu dem Gegenstand in seiner Hand, der teilweise in einem schwarzen Samtbeutel verborgen war. Eine goldene Maske. Der erste Reflex war Atemnot – für einen winzigen Moment schien mein Herz stillzustehen.

Die Maske war nicht identisch mit meiner, aber sie trug dieselben filigranen Ornamente, dieselbe opulente Schönheit, die sie eindeutig mit der Welt des Karnevals verband. Der Mann bemerkte meinen Blick. Ein schwaches, fast amüsiertes Lächeln huschte über seine Lippen.

„Die goldene Farbe zieht immer die Aufmerksamkeit auf sich, nicht wahr?“ Seine Stimme war tief, glatt wie Samt, und enthielt einen Hauch von ironischer Belustigung.

Ich zwang ein neutrales Lächeln auf meine Lippen. „Es ist schwer, so etwas nicht zu bemerken.“

„Das stimmt.“ Er lehnte sich zurück, während seine eisblauen Augen mich aufmerksam musterten. „Aber manchmal… ist es besser, nicht zu viel wahrzunehmen. Oder zu fragen.“

Meine Finger schlossen sich fester um mein Notizbuch. Der Ton seiner Worte war beiläufig, aber die Bedeutung war alles andere als das. Er legte die goldene Maske vorsichtig auf den Sitz neben sich, ein symbolischer Akt der Präsenz, fast wie eine Herausforderung.

„Sie reisen auch zu dem großen Treffen, nehme ich an?“ Seine Frage war beiläufig, doch die Schwere seines Blicks ließ keinen Zweifel daran, dass er mehr wusste, als er sagte.

Ich nickte langsam. „Ja. Es ist das erste Mal für mich.“

„Ah, eine Neulinge.“ Sein Lächeln vertiefte sich, aber es erreichte nie seine Augen. „Ein guter Zeitpunkt, um einzutauchen. Aber ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein. Manche Orte haben die Angewohnheit, uns mehr zu nehmen, als wir bereit sind zu geben.“

Ich spürte, wie meine Kehle trocken wurde. Seine Worte waren wie ein Stich, eindringlich und doch undurchdringlich. Bevor ich antworten konnte, griff er nach seinem Koffer und erhob sich.

„Es war ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern, Miss…?“ Er ließ die Frage in der Luft hängen.

„Meinhardt“, antwortete ich nach einem Augenblick des Zögerns.

Er nickte, als wäre das eine vorhersehbare Antwort, und hob die Maske an. „Wir sehen uns dann, Miss Meinhardt.“

Mit diesen Worten verließ er das Abteil, und ich blieb allein zurück, meine Gedanken rasten. Wer war er? Ein weiterer Spieler in diesem gefährlichen Spiel, oder ein Vorbote von etwas, das ich noch nicht verstand?

Der Rest der Fahrt verging in einem dumpfen Wirbel aus Gedanken und Emotionen. Das monotone Rattern des Zuges wurde zum Hintergrundrauschen meiner eigenen inneren Unruhe. Schließlich hielt der Zug, und ich trat hinaus in die kühle, klare Luft eines Dorfes, das nicht einmal auf den meisten Karten verzeichnet war.

Ein schwarzes Auto wartete am Bahnhofsrand. Ohne Kennzeichen, mit getönten Scheiben, wirkte es wie ein Phantom aus einer anderen Realität. Der Fahrer trug einen makellosen schwarzen Anzug, und seine Haltung war unauffällig, aber kontrolliert.

„Miss Meinhardt?“ Seine Stimme war respektvoll, aber distanziert, wie die eines Dieners, der nicht zu viele Fragen stellt.

Ich nickte nur, zog meinen Mantel enger um mich und stieg ein. Die Tür schloss sich mit einem sanften Klicken, und der Wagen setzte sich lautlos in Bewegung.

Die Fahrt war kurz, aber intensiv. Dunkle Bäume säumten die gewundenen Straßen, und die scheinbar endlose Dunkelheit zwischen den Stämmen verstärkte das Gefühl der Isolation. Ich spürte den Druck der Maske in der Schachtel auf meinem Schoß, als würde sie mir ins Ohr flüstern, dass es kein Zurück mehr gab.

Als schließlich das Anwesen der Falkenburgs in Sicht kam, hielt ich den Atem an. Ein Schloss aus vergangenen Zeiten, eine Festung aus Stein und Schatten. Die Türme ragten in den Abendhimmel, als wollten sie die Sterne selbst herausfordern. Es war Schönheit und Bedrohung in einem Atemzug.

Das Spiel hatte begonnen. Und ich war bereit, auch wenn jeder Schritt sich anfühlte, als würde er mich tiefer ins Unbekannte führen.