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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterHinter der perfekten Fassade


Clara

Die Dämmerung legte sich wie ein grauer Schleier über die Stadt, während ich die letzten Dokumente auf meinem Schreibtisch in einer dünnen, akkurat gebundenen Mappe zusammenfasste. Der Duft von abgestandenem Kaffee hing in der Luft, ein Überbleibsel der Arbeitsstunden, die sich unerbittlich in den Abend hineingezogen hatten. Mein Blick wanderte zu den großen Fenstern meines Büros, hinter denen die Skyline wie ein leuchtendes Puzzle aus Licht und Schatten wirkte. Die gläsernen Fassaden schimmerten kalt, eine Illusion von Perfektion, die alles verbarg, was darunter lag: Machtspiele, Geheimnisse – und vielleicht auch mich selbst, ein kleines Zahnrad in einem System, das mehr Schatten als Licht spendete.

„Clara?“ Die Stimme meiner Sekretärin durchbrach die Stille. „Ihr Taxi wartet unten.“

„Danke, Lisa. Ich komme gleich.“ Ich schloss die Mappe, zog den Mantel über meine Schultern und warf einen letzten, prüfenden Blick auf die Unterlagen. Der morgige Fall könnte ein Meilenstein meiner Karriere werden. Doch statt Stolz spürte ich ein leises, unangenehmes Ziehen, als läge eine unsichtbare Last auf meinem Rücken.

Das Taxi glitt lautlos durch die Straßen. Mein Blick fiel auf die verschwommene Reflexion der Lichter im Nebel, die den Asphalt wie eine trügerische Decke bedeckte. Mein Gedanke schweifte zu meinem Vater. Für viele war er ein Mann der Prinzipien, ein Symbol für Recht und Ordnung. Für mich war er... komplizierter. Die Momente, in denen er mich lobte, schienen immer einen Zweck zu verfolgen, als wären sie nicht bedingungslos.

Das Familienanwesen der Hoffmanns tauchte schließlich aus der Dunkelheit auf, eine Festung aus Stein und Glas, umgeben von hohen Mauern und perfekt gestutzten Hecken. Es war ein Denkmal, keine Zuflucht. Ein Schrein für den Erfolg, den mein Vater seinem Namen auferlegt hatte, und ich war die Erbin dieses Vermächtnisses.

Die schweren Eichentüren öffneten sich mit einem leisen Knarren, und der Butler, stets mit kühler Höflichkeit, ließ mich eintreten. Der vertraute Geruch von poliertem Holz und frischen Blumen schlug mir entgegen, doch es war, als würde das Haus alle Wärme verschlucken. Alles hier war makellos, aber steril – ein Ort, an dem keine Fehler und keine Emotionen geduldet wurden.

Im Esszimmer wartete mein Vater, wie immer perfekt gekleidet, seine Krawatte akkurat gebunden, sein silbrig-graues Haar ohne einen Makel frisiert. Als er mich sah, erhob er sich, ein Lächeln auf den Lippen, das gleichzeitig warm und distanziert war.

„Clara. Pünktlich wie immer.“ Seine Stimme war präzise wie ein Skalpell – kontrolliert, mit einem Hauch von Autorität, der keinen Widerspruch duldete.

„Vater.“ Ich nickte und zwang mich zu einem höflichen Lächeln.

Der Tisch war perfekt gedeckt – das Silberbesteck spiegelte das Licht des Kronleuchters wider, und die Teller waren so arrangiert, als wäre das Essen selbst ein Kunstwerk. Es war eine Inszenierung, bei der wir die Rollen seit Jahren spielten: Er der Patriarch, ich die Tochter, die seine Erwartungen erfüllen sollte.

Das Gespräch begann mit den üblichen Höflichkeiten. Wir sprachen über meinen Fall, über Politik, über Trivialitäten. Doch unter der Oberfläche lag etwas unausgesprochen: eine Spannung, die sich wie ein dünner Faden durchzog, jederzeit bereit zu reißen.

„Du machst Fortschritte, Clara“, sagte mein Vater schließlich, seine eisblauen Augen durchdringend. „Ich sehe viel von mir in dir.“

Ich erstarrte innerlich, auch wenn ich mir Mühe gab, es nicht zu zeigen. Diese Worte hätten ein Kompliment sein sollen, doch sie hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. „Das freut mich“, antwortete ich, doch meine Stimme klang hohl in meinen Ohren.

Nach dem Essen zog ich mich unter dem Vorwand, ein Buch zu suchen, in sein Arbeitszimmer zurück. Der Raum war eine Manifestation seiner Persönlichkeit: imposant, makellos, ein Ort der Kontrolle. Die Wände waren gesäumt von Bücherregalen, die bis zur Decke reichten, während Diplome und Auszeichnungen wie stumme Wächter über den Raum wachten.

Mein Blick fiel auf den schweren Mahagoni-Schreibtisch in der Mitte des Zimmers – ein Symbol seiner Macht, seiner Kontrolle. Ich öffnete eine der unteren Schubladen, in der ich die juristischen Werke suchte, die ich angeblich brauchte. Doch als ich ein Buch herauszog, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches: eine dünne, metallene Schublade, versteckt hinter einer falschen Front.

Mein Puls beschleunigte sich. Warum war sie versteckt? Und was beinhaltete sie?

Mit zitternden Fingern zog ich vorsichtig daran. Die Schublade glitt lautlos auf, und mein Blick fiel auf einen Stapel Dokumente. Das Papier fühlte sich kühl an, fast wie eine Warnung. Auf den ersten Blick wirkten die Seiten belanglos, doch als ich die ersten Zeilen las, zog sich mein Magen zusammen.

Namen. Organisationen. Zahlen. Diese Dokumente waren keine juristischen Notizen, sondern Abkommen. Transaktionen mit Personen und Gruppen, die ich aus den Nachrichten kannte – Namen, die in Verbindung mit Korruption und Verbrechen standen. Und mittendrin: die Unterschrift meines Vaters.

Ein Schauer lief über meinen Rücken. Meine Finger zitterten, und für einen Moment war ich unfähig, mich zu bewegen. Schritte hallten plötzlich durch den Flur, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Hastig schob ich die Schublade zurück und richtete mich auf, bemüht, meine Atmung zu kontrollieren.

Mein Vater erschien in der Tür, eine Augenbraue leicht hochgezogen. „Hast du gefunden, was du gesucht hast?“

Ich hielt das Buch hoch und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht. „Ja, danke.“

Er musterte mich einen Moment zu lange, als wollte er hinter meine Fassade blicken. Doch schließlich trat er beiseite, und ich verließ den Raum mit einem nervösen Knoten im Magen.

Die Fahrt zurück zu meinem Apartment verlief in bedrückender Stille. Die Skyline wirkte wie ein Labyrinth aus Lichtern und Schatten, ein Spiegel meiner Gedanken. Die Dokumente lasteten schwer in meiner Tasche, und mein Verstand raste. Was hatte ich gerade entdeckt? Und was bedeutete das für alles, woran ich geglaubt hatte?

Zurück in meinem Apartment ließ ich mich in den Sessel fallen, während die Lichter der Stadt durch die großen Fenster flackerten. Mein Blick wanderte hinaus, doch meine Gedanken blieben bei den Dokumenten. Die perfekte Fassade, die mein Vater so mühsam errichtet hatte, begann zu bröckeln. Und in den Rissen dahinter lag eine Wahrheit, die ich nicht ignorieren konnte.

Ich atmete tief ein, schloss die Augen und versprach mir selbst, dass ich nicht ruhen würde, bis ich die Antworten gefunden hatte – egal, was es mich kosten würde.