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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterSchattenspiele der Wahrheit


Clara

Die kühle, strukturiert eingerichtete Stille meines Apartments hätte mich beruhigen sollen, doch stattdessen fühlte sie sich wie eine zermürbende Leere an. Das leise Summen der Heizungsanlage und das entfernte Hupen von Autos draußen verstärkten die Beklemmung. Stille war noch nie mein Verbündeter gewesen, erst recht nicht jetzt, da ich mich in einem inneren Sturm wiederfand. Die Dokumente lagen auf meinem Couchtisch, der makellos polierte Glastisch war ein scharfer Kontrast zu den zerfledderten Seiten, die wie ein uneingeladenes Artefakt aus einer anderen Welt wirkten.

Meine Finger glitten vorsichtig über das Papier. Der bröselige, leicht gelbliche Rand der Blätter verriet ihr Alter, doch der Inhalt darin war zeitlos in seiner Kälte und Grausamkeit. Es war beinahe absurd, wie viel Macht in solch gewöhnlichen Blättern verborgen sein konnte. Die Namen, die Zahlen, die kalt formulierten Abmachungen – es war eine Geheimsprache, die ich nicht nur verstand, sondern deren Konsequenzen ich spüren konnte, bevor ich sie vollständig begriff. Es war ein Codex des Verrats, und die Signatur meines Vaters prangte wie ein Dolch mitten in jeder Zeile.

Ein Vertrag für Schutzgeldzahlungen an führende Unternehmen der Stadt. Eine Liste von Namen hochrangiger Beamter, deren Loyalität mit Geld erkauft wurde. Ein schockierender Vermerk über eine Zusammenarbeit mit den De Lucas, einer Organisation, die wie ein dunkler Schatten über der Stadt schwebte. Es war nicht nur Verrat – es war eine Verschwörung, die sich durch die höchsten Ebenen des Systems zog.

Ich lehnte mich zurück, drückte meine Finger gegen meine Schläfen und schloss die Augen. Es war eine Illusion zu glauben, ich könnte den Anblick der Dokumente abschütteln, indem ich sie nicht ansah. Die Wahrheit kroch wie ein Parasit in meinen Verstand, bohrte sich tiefer, mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag. Die Frage war nicht mehr, was ich entdeckt hatte, sondern was ich jetzt tun sollte.

Mein Handy lag reglos auf dem Tisch, ein stummer Zeuge meiner Isolation. Normalerweise hätte ich in einer Situation wie dieser zu jemandem gegriffen, der mir helfen könnte, doch an diesem Abend fühlte sich die Welt leer an. Ich dachte an die Kanzlei, an meine Kollegen, deren Gespräche oft wie ein endloser Wettbewerb klangen, wer mehr Fälle gewinnen und mehr Einfluss ausüben konnte. Dort herrschte Loyalität nur gegenüber dem Erfolg, nicht gegenüber der Wahrheit. Und an meinen Vater – den Mann, der mich zu der Frau geformt hatte, die ich jetzt war, nur um mich mit einem einzigen Fund komplett zu zerstören.

Ich griff nach der Kaffeetasse, die inzwischen kalt geworden war, und nahm einen kleinen Schluck. Der bittere Geschmack ließ mich innehalten – oder vielleicht war es die Ironie, dass ich in diesem Moment nach der vertrauten Routine suchte, um mich an etwas festzuhalten. Doch keine Routine konnte die Realität verändern: Mein Vater war nicht der Mann, der er zu sein vorgab. Und wenn das stimmte…

Ein Gedanke schnürte mir die Kehle zu. Wie weit reichten seine Verstrickungen tatsächlich? Wenn er mit diesen Organisationen zusammenarbeitete – kriminellen Organisationen, wie die Namen und Abmachungen nahelegten –, dann war die gesamte Grundlage meines Lebens nichts weiter als eine Lüge. Der Mann, dem ich nacheiferte, dessen Prinzipien ich zu meinen gemacht hatte, war ein Betrüger.

Unwillkürlich überkam mich ein Bild aus meiner Kindheit. Mein Vater, hoch aufgerichtet in seinem dunklen Anzug, hielt meine kleine Hand in seiner. Wir standen vor einem überfüllten Gerichtssaal, und er hatte mir versprochen, dass er die Wahrheit verteidigen würde – immer. „Das ist es, wofür wir kämpfen, Clara“, hatte er gesagt, seine Stimme ruhig und voller Überzeugung. „Die Wahrheit ist unser Kompass.“ Wie falsch dieser Moment jetzt wirkte.

Ich zwang mich, wieder auf die Dokumente zu schauen. Einige der Namen kamen mir bekannt vor. Unternehmen, die durch Unterwanderung oder Korruption in den Nachrichten aufgetaucht waren. Namen, die ich mit einem bestimmten, dunklen Ruf assoziierte. Es waren keine zufälligen Notizen. Mein Vater hatte mit den Schatten der Stadt verhandelt, vielleicht sogar kooperiert.

Meine Hand zitterte, als ich die Papierseiten langsam umblätterte, jede enthüllte Zeile wie ein Schlag ins Gesicht. Dann stieß ich auf etwas, das mich innehalten ließ. „De Luca.“ Der Name war nicht nur in den Dokumenten wiederholt aufgetaucht, sondern stand in einer besonders prominenten Abmachung, die wie ein Eckpfeiler all dieser Geschäfte wirkte. Leonardo De Luca, der Mafiaboss, dessen Name selbst in den abgeschirmten Fluren der Justiz wie ein Fluch gemurmelt wurde. Ein Mann, der angeblich unantastbar war, ein Geist, der sich nur selten zeigte, aber immer präsent war.

Ich konnte nicht glauben, was ich las. War mein Vater mit De Luca verbündet? Oder war er nur eine Schachfigur, ein Werkzeug in Leos Netz aus Macht und Manipulation? Beide Szenarien waren gleichermaßen erschreckend.

Ein Zittern ging durch meinen Körper, und ich schlang meine Arme um mich selbst, als könnte ich die Kälte abschütteln, die plötzlich durch das Zimmer kroch. Irgendwo draußen schwoll der Klang von Sirenen an, ein vertrautes Echo dieser Stadt, das von Gefahr sprach, die nie weit entfernt war. Ich hatte das immer als Hintergrundgeräusch abgetan, als einen Teil der urbanen Symphonie, die ich ignorierte. Doch jetzt klang es fast wie ein Vorzeichen.

Ich hätte die Polizei rufen können, hätte diese Dokumente einfach anonym einreichen können. Aber etwas in mir wusste, dass das keine Lösung wäre. Es wäre nur ein weiterer Tropfen in einem endlosen Ozean der Korruption und Machtspiele. Und was, wenn mein Vater wusste, dass ich sie hatte? Würde mein Leben jemals sicher sein?

Ich war allein. Die Erkenntnis traf mich mit der Wucht eines Schlags. Ich konnte niemandem vertrauen, nicht der Justiz, nicht meinen Kollegen, vielleicht nicht einmal meiner eigenen Familie. Doch wenn ich dieser Situation entkommen wollte, musste ich jemanden finden, der in dieser dunklen Welt operierte. Jemanden, der die Regeln kannte – oder sie brach.

Mein Blick wanderte erneut zu dem Namen auf dem Blatt. De Luca. Es gab keinen anderen Weg, das wusste ich. Aber die Vorstellung, ihn zu kontaktieren, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Er war nicht einfach nur ein Mann; er war eine Macht, eine wandelnde Bedrohung. Wenn ich das tat, hätte ich keine Kontrolle mehr.

Ich atmete tief durch und setzte mich aufrecht hin. „Kontrolle“, murmelte ich leise, als hätte das Wort irgendeine tröstende Wirkung. Ich hatte mein Leben damit verbracht, sie zu suchen, mich an sie zu klammern, sie zu fordern. Und jetzt… jetzt stand ich vor etwas, das unkontrollierbar schien. Vielleicht war es an der Zeit, diese Fassade loszulassen und herauszufinden, wer ich wirklich war, ohne die Illusion von Regeln und Prinzipien.

Die Stadt schimmerte draußen im Nebel, die Lichter wirkten wie Irrlichter, die mich in die Dunkelheit lockten. Der Gedanke daran, herauszufinden, was mein Vater getan hatte, war wie ein Sog, ein unaufhaltsamer Drang. Ich würde nicht ruhen können, bis ich die Wahrheit kannte.

Mit einem letzten Blick auf die Dokumente griff ich zu meinem Handy und öffnete den Browser. Der Name „De Luca“ glühte in meinen Gedanken wie ein Leuchtfeuer, das mich anziehen und gleichzeitig warnen wollte. Ich musste mehr über ihn erfahren. Einem Phantom wie ihm begegnete man nicht einfach so – nicht, wenn man überleben wollte. Doch in meinem Inneren begann sich etwas zu verändern. Eine Entschlossenheit, die mich gleichzeitig erschreckte und beflügelte.

Ich würde die Wahrheit finden. Mein Vater, De Luca, diese Stadt – sie alle hatten ihre Geheimnisse. Aber ich hatte etwas, das sie nicht hatten: den Willen, alles zu riskieren, um Licht in diese schattenhafte Welt zu bringen.

Egal, was es kostete.