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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterMasken des Verrats


Clara

Der erste Schritt zurück ins Gebäude der Staatsanwaltschaft fühlte sich an wie ein Verrat an mir selbst. Die sterile Luft der endlosen Flure, durchzogen vom Geruch abgestandenen Kaffees und dem metallischen Hauch von Büroklammern und Druckertinte, weckte Erinnerungen an Routine und Sicherheit. Doch heute fühlte es sich an wie eine Fassade, glatt und kalt wie die polierten Böden unter meinen Absätzen.

Ich hielt die Dokumente in meiner Tasche fester, als könnten sie mir Halt geben. Jeder Schritt hallte durch die Flure, ein Echo meiner Anspannung. Mein Puls beschleunigte sich, als ich mich der schweren Holztür näherte, die das Büro meines Vaters verbarg. Sie war zu, wie immer, ein Bollwerk gegen die Welt. Ein Symbol seiner Kontrolle.

Vor der Tür hielt ich einen Moment inne. Ein tiefer Atemzug, die Augen geschlossen. Ich zwang meine Finger, das Zittern zu unterdrücken. Dies war kein Augenblick für Schwäche. Dann klopfte ich an, kurz und bestimmend, ohne auf eine Antwort zu warten.

Die Tür öffnete sich schwerfällig, ein leises Knarren durchbrach die gespannte Stille. „Clara.“ Sein Ton war ruhig, beinahe zu ruhig, während er von einem Stapel Akten aufblickte. In seinen eisblauen Augen lag ein kühler Glanz, der mich an einen jener frostigen Wintermorgen erinnerte, an denen er mich Schlittschuhlaufen lehrte – als er mit kalter Präzision jeden meiner Fehler kommentierte, ohne Mitleid für die unzähligen Stürze.

„Vater“, erwiderte ich, meine Stimme schärfer, als ich beabsichtigt hatte.

Sein Büro war makellos wie immer: ein massiver Mahagonischreibtisch, schwere Bücherregale mit akribisch geordneten Bänden, und die Wand voller Diplome und Auszeichnungen, die seine Autorität unterstrichen. Doch heute sah ich die Perfektion anders – sie war keine Stärke, sondern eine Last, die er um jeden Preis aufrechterhalten musste. Ein Versuch, Ordnung über Chaos zu stellen, über Wahrheit.

„Ich nehme an, es ist wichtig, wenn du unangekündigt auftauchst.“ Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, seine Finger zu einem steinernen Dreieck verschränkt. Sein Blick war aufmerksam, aber nicht alarmiert, als hätte er alles unter Kontrolle.

Langsam stellte ich meine Tasche auf den Boden. Meine Hände fühlten sich schwer an, als ich die Dokumente hervorholte. Ihre Kanten waren leicht zerknittert, als hätten sie mein inneres Chaos aufgenommen. Ich legte sie vorsichtig auf seinen Schreibtisch.

„Vielleicht solltest du mir erklären, was das ist?“ Meine Stimme war leise, aber sie zitterte nicht. Meine Augen suchten seine, fast herausfordernd, während sein Blick auf den Papieren ruhte.

Für einen Moment verengten sich seine Augen, nur eine winzige Bewegung, aber sie verriet alles. Peter Hoffmann, der Mann, der jede Facette seines Lebens mit eiserner Kontrolle führte, erlaubte sich einen Sekundenbruchteil der Unsicherheit.

„Woher hast du das?“ Seine Stimme war ruhig, aber mit einer Schärfe, die ich nur zu gut kannte. Sie war wie ein unsichtbarer Dolch, der vor Gericht ganze Existenzen zerstören konnte.

„Das spielt keine Rolle“, sagte ich, meine Arme verschränkend. „Wichtiger ist, was es bedeutet. Ist das deine Unterschrift? Sind das deine Abmachungen?“

Er nahm die Papiere in die Hand. Seine Finger zitterten leicht, und ich spürte, wie meine Wut aufloderte. Er ließ seinen Blick über die Seiten wandern, langsam, fast bedächtig, bevor er sie wieder ablegte und mich ansah.

„Clara, du verstehst nicht, was das bedeutet.“

„Dann erklär es mir.“ Meine Stimme war ruhig, doch ein feiner Riss in meiner Haltung verriet den Sturm in mir.

Er lehnte sich zurück, als würde er einen schwierigen Fall vor einem Richter darstellen. Seine Stimme war beherrscht, fast sanft. „Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sondern eine Ansammlung von Grautönen. Was du hier siehst, sind keine Verbrechen, sondern notwendige Maßnahmen, um ein größeres Übel zu bekämpfen.“

Ich spürte, wie meine Nägel sich in meine Handflächen bohrten. „Also behauptest du, dass all diese Abmachungen – die Schutzgelder, die Bestechungen, die Zusammenarbeit mit…“ Ich stockte, das Wort war wie Gift in meinem Mund. „…den De Lucas – moralisch gerechtfertigt sind?“

Sein Blick blieb fest auf mir, doch ich bemerkte, wie seine Hand sich auf der Schreibtischplatte zusammenkrampfte. „Ich habe getan, was getan werden musste. Es ist einfach zu urteilen, wenn man nur die Oberfläche sieht, Clara. Aber ich habe die Stadt vor Schlimmerem bewahrt. Manchmal muss man Kompromisse eingehen, um das Richtige zu tun.“

„Das Richtige?“ Meine Stimme wurde lauter, und meine Beherrschung drohte zu brechen. „Wie kannst du das rechtfertigen? Du hast mich mein ganzes Leben gelehrt, dass die Wahrheit wichtig ist, dass Prinzipien nicht verhandelbar sind. Und jetzt erfahre ich, dass du genau das Gegenteil machst?“

Seine Fassade schien für einen Moment zu bröckeln, ein Hauch von Bedauern durchzog seine Züge. „Ich habe diese Prinzipien immer hochgehalten, Clara. Aber die Welt ist komplexer, als du glaubst. Und ich wollte dich beschützen. Dich fernhalten von all dem.“

Ein bitteres Lachen entkam mir. „Beschützen? Indem du mich belügst? Indem du mir ein Bild von dir zeigst, das überhaupt nicht wahr ist?“

Er stand auf, langsam, beinahe schwerfällig, und umrundete den Schreibtisch. Jetzt war er nah genug, dass ich den Duft seines Rasierwassers wahrnahm – einst ein Symbol für Sicherheit, das jetzt wie ein Hohn auf meine Erinnerungen wirkte.

„Clara“, begann er, seine Stimme ungewohnt sanft, fast flehend. „Ich habe Fehler gemacht, ja. Aber ich habe alles für dich getan. Für uns.“

„Für uns?“ Ich trat einen Schritt zurück, meine Wut kochend. „Oder für dich? Für deine Macht, deinen Einfluss? Sag mir die Wahrheit, Vater. Hast du all das getan, um die Stadt zu retten, oder um dich selbst unantastbar zu machen?“

Die Härte kehrte in seine Augen zurück, und die Sanftheit verschwand. „Sei vorsichtig, Clara. Du verstehst nicht, worauf du dich einlässt.“

„Vielleicht“, erwiderte ich und hob das Kinn. „Aber ich werde es herausfinden. Ob du es mir erzählst oder nicht.“

Ein Moment der Stille füllte den Raum, nur unterbrochen vom leisen Summen der Klimaanlage. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er hielt inne. Stattdessen wandte er sich ab und ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen.

„Du weißt nicht, was du tust“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich blieb noch einen Moment, in der Hoffnung, dass er etwas erklären würde, dass er etwas sagen würde, um die Risse in meinem Bild von ihm zu kitten. Doch er schwieg.

Als ich das Büro verließ, hallten meine Schritte durch die leeren Flure. In meinem Kopf wirbelten Gedanken, doch einer stach heraus: Ich würde nicht aufhören. Nicht, bis ich die Wahrheit kannte. Und nicht, bis ich entschied, was dieser Wahrheit folgen sollte.